Andere Länder, andere Sitten ....


Ich muss ja ehrlich zugeben, dass ich auch nach fast einem Jahr hier und einiger Erfahrung mit spanischer Kommunikation immer noch manchmal zusammenzucke, wenn neben mir mal wieder jemand sein klingelndes Handy aus der Tasche zieht, es aufklappt und einfach "¿Qué?" hineinbrüllt. Ja gut, mir ist schon klar, dass der Betreffende wahrscheinlich bereits an der Nummer auf dem Display erkannt hat, dass der Anrufer sein Kumpel oder auch seine Mutter ist, aber trotzdem: "¿Qué?" heißt wörtlich übersetzt schlicht und einfach nichts außer: "Was?" Was ist denn das, bitte schön, für eine Art, sich am Telefon zu melden?? Wenn sich jemand in Deutschland, den ich anrufen würde, so melden würde, würde ich entweder vor Schreck oder vor Empörung über so eine Unfreundlichkeit wahrscheinlich sofort wieder auflegen! Hier aber ist das absolut normal und niemand findet das Geringste dabei.

Spanier reden lieber ökonomisch als höflich miteinander

Ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden, warum die - eigentlich so warmherzigen, kommunikativen und kontaktfreudigen Spanier - in mancherlei Hinsicht sprachlich so anders ticken als wir Deutschen. Ich glaube, mittlerweile habe ich eine Idee dazu: Sie sind einfach sehr ökonomisch in ihrer Kommunikation, alles in ihren Augen halbwegs Entbehrliche lassen sie weg. Auf diese Weise können sie schneller und mehr in derselben Zeit sprechen - das erstrebenswerteste Ziel überhaupt beim Thema Kommunikation für dieses Völkchen, wie mir scheint (siehe hier). Deshalb verschlucken sie fröhlich Konsonanten, wie's ihnen gerade opportun erscheint, bilden durch Weglassen jeglicher Pausen zwischen den Wörtern endlose Bandwurmlautungetüme, vor denen der Spanischneuling nur in die Knie gehen kann und sprechen vorzugsweise im Maschinengewehrfeuertakt. Und aus dem gleichen Grund nimmt sich hier auch keiner die Zeit, ein Telefongespräch (bei dem der Anrufer ja sowieso weiß, wen er da angewählt hat und der Angerufene dank Nummererkennung ebenfalls schon informiert ist, wer sich gleich melden wird) mit bei uns üblichen Floskeln wie: "Ja, bitte?" - "Hallo, ich bin's, Antonio!" - "Hallo, schön, dass du anrufst!" oder dergleichen unnötig aufzublähen. Lieber kommt man gleich zum Kern des Ganzen und damit zur Frage: "Was (ist los / willst du / gibt's Neues)?"

Aus dem vermutlich gleichen Grund werden Höflichkeitswendungen wie "por favor" (bitte) oder "gracias" hier erheblich weniger inflationär gebraucht als bei uns in Deutschland. Für deutsche Ohren wie meine fehlt einem Satz wie: "¿Me pasas la mantequilla?" (Gibst du mir mal die Butter?) etwas Entscheidendes, denn schließlich wurde mir schon im Kindergarten eingebläut, dass "bitte" in so einem Kontext das unerlässliche Zauberwort darstellt. So habe ich auch eine ganze Weile gebraucht, bis ich es das erste Mal geschafft habe, in einem Café einfach mal: "¿Me pones un cortado?" (Bringst du mir einen Espresso mit Milch?) zur Bedienung zu sagen und dabei kein "por favor" hinterher zu schieben. Aber auch hier gilt: Alle tun es und finden es ganz normal. Würde ich meine deutsche Denke 1:1 ins Spanische übersetzen - also etwa (grammatikalisch völlig korrekt!) sagen: "Me podrías poner un cortado, por favor?" (Würdest du mir bitte einen Espresso mit Milch bringen?), würde ich hier eher seltsam angeschaut als für besonders höflich gehalten werden. Anpassung ist wieder mal gefragt! (Und gewisse Zweifel kommen auch auf an meinem Spanischunterricht in Deutschland, wo ich brav lehrbuchgetreu übte: "Perdone, ¿dónde está ...?" (Entschuldigung, wo befindet sich ...?) Während einem hier im Bedarfsfall sehr viel wahrscheinlicher so etwas wie: "Oye, ¿dónde está ...?" (Hör mal / he du da ...) um die Ohren gehauen wird. Nun ja, in freier Wildbahn ist natürlich vieles anders als unter Laborbedingungen, und das gilt ja nicht nur für Sprache.

Wo ich mich aber bestimmt nie, nie, nie anpassen werde. ist das kurze, kehlige "¿Eh?", das hier anstelle eines höflichen: "Wie bitte?" bei Nichtverstehen des vom anderen Gesagten ausgestoßen wird! Man kann es sowohl lautlich als auch inhaltlich gut mit dem deutschen "Hä?" vergleichen - und das galt zumindest während meiner Erziehung noch so ziemlich als der Gipfel der Unhöflichkeit in einer Konversation, das ging gar nicht! Wer "Hä?" statt "Wie bitte?" rückfragte, deklassierte sich ein für alle Mal als ungezogener, ungehobelter Proll. Ausgeschlossen! Ebenso wenig kann ich mich mit dem auch ab und zu verwendeten "¿Como?" (Wie?) als Alternative anfreunden, denn auch das empfinde ich immer noch als extrem unhöflich. Die Sache mit dem "Wie bitte?" hat sich bei mir während meiner deutschen Erziehung so tief eingebrannt - ich würde vermutlich auch noch während eines Flugzeugabsturzes, wenn ich die Anweisungen der Stewardess zum Thema Schwimmwesten anlegen nicht verstehen würde, hysterisch, aber unverändert höflich "Wie bitte?" kreischen. Mit Müh und Not rette ich mich also - da es keine wirklich wörtliche Entsprechung zu dieser Floskel im Spanischen gibt - ins "¿Cómo dice?" (Was haben Sie gesagt?), wobei ich mich nicht immer richtig wohl damit fühle, aber sei's drum. Erträglicher als "Hä?" finde ich es allemal.

"Würden Sie mich mal vorlassen?" - "Im Leben nicht!"

Über die Gelassenheit, mit der sich die canarios selbst in die längsten Warteschlangen einzureihen pflegen und die schier unerschöpfliche Geduld, mit der sie auf Ämtern und Behörden warten, bis sie an der Reihe sind, habe ich an anderer Stelle ja schon berichtet (siehe hier). Geduld und Gelassenheit enden aber sofort, sobald sich jemand an der gottgegebene Reihenfolge der Wartenden vorbei zu mogeln versucht! Um ein derart inakzeptables Verhalten möglichst bereits im Ansatz zu ersticken, hängen selbst in winzigen charcuterías oder panaderías vielerorts kleine Kästchen an der Wand, aus denen man eine Nummer zieht. Anschließend wartet man brav, bis diese entweder aufgerufen oder (je nach technischer Ambition des Ladenbesitzers) auf einer elektronischen Anzeigentafel hinter der Theke angezeigt wird. Kann man kein Nummernkästchen entdecken und lässt sich nicht auf den ersten Blick erkennen, wo die Schlange der Wartenden endet, empfiehlt sich allemal die Frage "¿Quién es el último?" (Wer ist der Letzte?) oder auch einfach "¿El último?", bevor man sich selbst anstellt.

Denn so locker und lässig die canarios sonst in den allermeisten Dingen sind, sie verstehen überhaupt, aber wirklich überhaupt keinen Spaß in Sachen Vordrängeln! Selbst gemütliche ältere Herren mutieren bei einem derartigen Versuch schlagartig zum knurrenden Zerberus, der seinen Platz notfalls mit Hilfe von Spazierstock oder zusammengerollter Zeitung schlagkräftig zu verteidigen bereit ist. Richtig in Acht nehmen muss man sich aber vor älteren señoras, wenn man sie - und sei es aus Unachtsamkeit oder Versehen - in einer Warteschlange zu überholen versucht! Unwillkürlich fällt einem da Schillers "Lied von der Glocke" ein: "Da werden Weiber zu Hyänen / Und treiben mit Entsetzen Scherz / Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen / Zerreißen sie des Feindes Herz." Brauen werden ebenso wie Schultern drohend zusammengezogen, Augen hinter Bifokal-Gläsern funkeln streng und Zeigefinger, Einkaufskorb oder -wagen werden mahnend vor dem Unverschämten hin- und hergeschwenkt. Kein Zweifel, träte er nicht sofort mit gesenktem Haupt und Blick reumütig den Rückzug an, er müsste um seine körperliche Unversehrtheit fürchten. Mit einer billigen Entschuldigung wie: "Könnten Sie mich vielleicht vorlassen, ich hab's eilig / nur diese eine Packung Milch gekauft / meine Fruchtblase ist gerade geplatzt?" lassen sich die Furien nicht besänftigen. Da könnte ja jeder kommen - nichts gibt's! Hier wird der Reihe nach abgefertigt, und wenn der Himmel über uns einstürzt, sonst ist ja der Anarchie Tür und Tor geöffnet.

¡La cuenta, por favor!

Wenn man von dieser kleinen Marotte mal absieht, sind die canarios aber, wie schon erwähnt, sehr umgängliche und entspannte Zeitgenossen. Und wie in ganz Spanien wird auch hier die Gastfreundschaft groß geschrieben. Allerdings ist es unter Freunden, Bekannten oder gar Kollegen eher unüblich, sich gegenseitig nach Hause einzuladen und einander dort zu bewirten. Das ist etwas, was eher der Familie, höchstens noch einmal sehr engen Freunden vorbehalten bleibt. Zwar haben die Engländer den Spruch "My home is my castle" geprägt, aber die Spanier würden ihn bestimmt sofort unterschreiben. In Deutschland war ich es jahrzehntelang gewohnt, dass eine Einladung zum Essen nach Hause ab einem bestimmten Bekanntschaftsgrad die logische und erwartete Fortsetzung einer Beziehung darstellte, an deren Intensivierung man in irgendeiner Form interessiert war. "Ihr müsst mal zu uns zum Essen kommen ... ", dieser Satz läutete in der Regel einen höheren Level in einer neuen Bekanntschaft ein und war auch oft der Auftakt zu einer Folge von Einladungen und Gegeneinladungen, manchmal auch richtig passionierten Wettbewerben darum, wer wen besser, aufwändiger und schmackhafter zu bekochen wusste. Das ist hier vollkommen anders. Beziehungen werden in erster Linie aushäusig gepflegt. "¿Vamos a tomar una copa?" (Gehen wir zusammen was trinken?) ist deshalb hier das Signal, dass das Gegenüber einen nett findet und näher kennenlernen möchte. Man kann jahrelang mit einem canario befreundet oder gut bekannt sein, ohne dessen Wohnung auch nur ein einziges Mal von innen zu Gesicht zu bekommen. Das ist kein Zeichen besonderer Reserviertheit, sondern einfach ein kultureller Unterschied zwischen Spanien und Deutschland, den man kennen sollte, um sich nicht irgendwann unnötig zu wundern. Die Spanier gehen sehr gerne aus und nutzen dafür jede sich bietende Gelegenheit. Ich kann mich mit dieser Sitte nach Jahrzehnten des besorgten Überlegens, was Gast X wohl besser schmecken würde, Brokkoli oder grüne Bohnen, übrigens ausgezeichnet anfreunden. Und ich finde es auch gut, dass auf diese Weise an keinem der Beteiligten später der Abwasch hängen bleibt!

Dass man sich eher aushäusig miteinander trifft, bedeutet aber nicht, dass nicht eingeladen wird, im Gegenteil! Es ist hier absolut unüblich, dass man - geht man mit Freunden oder Bekannten in eine Bar oder zum Essen - getrennt bezahlt. Würde man, wie es in Deutschland bei solchen Anlässen meist gehandhabt wird, den armen Kellner dazu verdonnern, pro Kopf genau auszurechnen, wer was konsumiert und zu bezahlen hat - ich glaube, man würde ihn nachhaltig traumatisieren. Und man wäre bei allen Anwesenden ein für allemal als pingeliger, geiziger deutscher Korinthenkacker unten durch. Das macht man hier einfach nicht. Es gibt - je nach Anlass und je nachdem, wie die Anwesenden zueinander stehen - zwei Möglichkeiten, wie das Thema Bezahlen in so einem Fall geregelt wird:

Variante 1:  Einer für alle, alle für einen.

Bei dieser Lösung schnappt sich einer die - vom Kellner auf einem Tellerchen gebrachte - Rechnung und beweist sich als fulminanter Kopfrechner, indem er den Gesamtbetrag einfach durch die Anzahl der Anwesenden dividiert. Jeder bezahlt dann seinen Teil davon. Das mag uns auf den ersten Blick befremdlich erscheinen - was, wenn der eine die gratinierten Jakobsmuscheln und den teuren Weißwein hatte, der andere aber nur einen grünen Salat und ein Mineralwasser? Aber über so etwas wird hier großzügig hinweggesehen. Und in der Regel gleicht sich so etwas auf lange Sicht gesehen ohnehin aus. Also nicht rumzicken!

Variante 2: "¡Invito yo!"

Sehr viel häufiger als die erste Variante - und sehr viel beliebter! "¡Invito yo!" (Ich lade euch ein!) fungiert als Auftakt zu einem heiteren Wettstreit zwischen den Anwesenden darüber, wer die Rechnung bezahlen "darf". Hat der erste das Spielchen mit dieser oder einer ähnlichen Ankündigung eröffnet, beginnen die anderen sofort zu protestieren: "¡No, pago yo!" Das geht dann eine Weile hin und her, bis der Wettstreit irgendwie entschieden ist und einer sich durchgesetzt hat. Überwiegend wird das Spiel in größeren Runden übrigens auch in Zeiten der Emanzipation von Männern gespielt; als Frau darf man in so einem Fall entspannt-gespannt einfach auf den Ausgang des Ganzen warten. Man kann das Spielchen aber natürlich auch nur zu zweit oder zu dritt spielen, und dann ist man als Frau durchaus gleichberechtigt  mit dabei. Es wird unverkrampft, aber doch genau von der ganzen Runde registriert, wer als der glückliche "Sieger" aus der Sache hervorgeht - der ist dann bei den nächsten Runden sozusagen nur noch Statist; er spielt zwar mit, damit die Dynamik erhalten bleibt, darf aber jetzt erst ein paar Mal "verlieren" und sich der Reihe nach von den anderen einladen lassen, bis es dann irgendwann wieder an ihm ist, sich im Kampf um die Rechnung durchzusetzen. So wird ein gut funktionierendes Gleichgewicht von Geben und Nehmen in sozialen Beziehungen aufrecht erhalten, und alle haben ihren Spaß.

Ein nützlicher Schachzug in solchen Situationen, der einen in Sachen Rechnung mit einem Schlag in die pole position bringt, ist übrigens der: Wenn alle mit dem Essen und dem Kaffee soweit fertig sind und weitere Bestellungen eher unwahrscheinlich werden, entschuldigt man sich kurz und verschwindet in Richtung Toilette. Da dieser Weg in den meisten Lokalen ohnehin an der Theke vorbeiführt, kann man sich unterwegs unauffällig den Kellner schnappen, sich die Rechnung bringen lassen und diese stillschweigend gleich an der Bar begleichen. Dann kehrt man unschuldig guckend an den Tisch zurück, und sobald der Auftaktsatz "¡Invito yo!" von einem der anderen in den Raum geworfen wird, kann man sich überlegen, wie lange man dem Spiel schweigend zuschaut, ehe man mit souveränem Lächeln mitteilt, der Streit sei ganz unnötig, da man selbst die Sache bereits erledigt habe. Eine sehr empfehlenswerte Variante für Menschen, die sich - sei es aufgrund ihres eher ruhigen Temperaments oder auch sprachlicher Hindernisse - der lebhaften verbalen Auseinandersetzung um die Rechnung am Tisch nicht so gewachsen fühlen, aber trotzdem das Gefühl haben, jetzt auch mal mit Bezahlen an der Reihe zu sein.

Man muss sich übrigens keine Sorgen machen, dass man bei dem ganzen Einladungs-Hin-und-Her irgendwie zu kurz kommen oder über den Tisch gezogen werden könnte. Dazu sind die Spanier wirklich viel zu großzügig und gastfreundlich veranlagt. Wir jedenfalls hatten bisher eher unsere liebe Not, das Gleichgewicht wenigstens nicht gänzlich kippen zu lassen und uns wie die letzten Schnorrer durch halb Gran Canaria zu futtern und zu trinken. Glücklicherweise bietet ein Ausgeh-Abend mit Freunden und Bekannten hier meist mehrere Gelegenheiten, sich um die Rechnung zu "bewerben". Während man sich in Deutschland zum Essen meist in einem Lokal verabredet, dort dann auch die ganze Zeit über zusammen sitzen bleibt und höchstens im Anschluss noch irgendwo in einer Bar einen "Absacker" nimmt, ist hier meist eher "Bar-Hopping" angesagt, wenn man miteinander ausgeht. Man trifft sich in einer Bar, trinkt etwas, zieht dann gemeinsam weiter in die nächste, isst dort eine Kleinigkeit, trinkt etwas, zieht dann weiter in die nächste Bar und so fort. Das ermöglicht es dann jedes Mal einem anderen aus der Runde, sich die Rechnung zu schnappen. Akribisches Protokollieren, wer wem was schuldet, ist also gänzlich unnötig - früher oder später gleicht sich die Sache immer aus. Und wenn's nicht genau stimmt - "¡No importa!"  Wer wird sich denn über so was den Kopf zerbrechen, wenn man ein gemütlicher Runde einen schönen Abend hatte. Auch so ein Aspekt der kanarischen Lässigkeit, der mir gut gefällt!