Auf die Katz‘ gekommen


Fe&Moritz
Angekommen sind wir auf Gran Canaria hier ja, wie Leser dieses Blogs wissen, nur mit einer Katze unter dem Arm bzw. in der superteueren Spezial-Hyper-Mega-Reisetasche. Unsere Prinzessin Banni hat sich hier auch schnell eingelebt und jagt jetzt statt deutscher Mäuse und Vögel eben vorzugsweise die hiesigen lagartos. Da hat sie sich als ganz flexibel erwiesen - gefressen wird die Jagdbeute von ihr sowieso in keinem Fall, da ist ja auch gar kein so leckeres Sößchen drauf wie auf ihrem Gourmet-Perle-A-la-carte-Futter. Also ist es ihr eigentlich weitgehend egal, was sie jagt, Hauptsache, es gibt genug davon und es bewegt sich. Wobei unser Fräulein schon etwas Lehrgeld zahlen musste. Aufgrund einer Zahnfleischerkrankung waren ihr die meisten ihrer Zähne schon in Deutschland so nach und nach abhanden gekommen, was sie aber weder beim Fressen noch beim Jagen je sonderlich zu stören schien. (Na gut, so ein Gourmet-Perle-A-la-Carte-Tütchen kann man auch einfach lutschen, da muss man nicht groß kauen ....) Nur die beiden vorderen oberen Eckzähne waren ihr erhalten geblieben und wohl beim Festhalten der Jagdbeute auch immer mal wieder ganz nützlich. Bis sie sich bei einer etwas größeren Eidechse ein bisschen verkalkuliert hat - während die kleinen nämlich noch eine eher weichere Haut haben, sind die größeren ja richtige kleine Panzer auf vier Beinen. Da beißt man nicht mal so eben ungestraft rein ... Seit dieser unfreiwilligen Lehrstunde in Sachen Keratinpanzer kontra Zahnkeramik ist aus „the cat formerly known as Fräulein Zweizahn“ halt „Fräulein Einzahn“ geworden - aber auch das bringt sie nicht besonders aus dem Tritt. Neulich habe ich sie dabei erwischt, wie sie schon wieder ein lagarto-Exemplar von gut und gerne 20 cm aufs Korn genommen hatte. Sie ist da offensichtlich etwas beratungsresistent .... na, einen Zahn hat sie ja noch übrig ...

Banni blieb aber nur ungefähr ein halbes Jahr lang Einzelkatze bei uns auf Gran Canaria. Ich hatte damals noch nicht so ganz begriffen, dass man mit den Bestellungen ans Universum hier im Tal von Agaete extrem vorsichtig sein muss - irgendwie scheint es hier eine Art Verstärker-Echo oder so dafür zu geben. Man wünscht sich was, durchaus präzise nach Anleitung im entsprechenden Buch - aber dann kriegt man das Zeug gleich „en gros“ geliefert, wenn man Pech hat. Ich hatte mich beklagt, dass mir eine Katze zu wenig war - meine geliebte Chin-Chin war ja vor unserer Auswanderung im hohen Alter von 19 Jahren gestorben und Banni war von jeher eher eine „Papakatze“. Mir fehlte also wieder eine „eigene“ Katze. Das hatte ich dem Universum auch so mitgeteilt, aber wohl versäumt, deutlich dazu zu sagen, dass es nur eine weitere Katze sein sollte. Das Universum hörte daher zu, bedauerte mich ein bisschen, und beschloss wohl, lieber gleich mal umfassend für Abhilfe zu sorgen. So tauchte gleich in unserem ersten Sommer hier auf der Treppe vor unserem Garten eine Mamakatze mit zwei kleinen Katzenbabys im Schlepptau auf; eins wie sie selbst grau getigert, das andere weiß-grau. Mama hatte wohl mitbekommen, dass ich für einen öfter zum Abendessen vorbeikommenden schwarzen Straßenkater Futter auf unserer Terrasse parat stellte, und dachte sich: „Hey, super, eine Katzenverrückte, der drück ich doch gleich mal meine Blagen aufs Auge und gehe meiner Wege.“ Oder so ähnlich. Nachdem sie ihre Kids nämlich ein paar Abende hintereinander instruiert hatte, wo der Futternapf zu finden war, verschwand sie, die Kleinen aber blieben. Wie sich herausstellte, als sie größer wurden, waren es zwei Brüderchen und ich taufte die beiden Mio und Mikesch und hatte plötzlich drei, statt zwei Katzen. Nun ja, das war jetzt auch kein Problem, schließlich waren alle drei ohnehin die meiste Zeit draußen unterwegs und es gab für alle genug gemütliche Plätzchen zum Schlafen im Haus. War doch bestens! Dachte ich.

Das Universum dachte anders und fand, dass bei uns doch noch reichlich Platz sei. (Wahrscheinlich teilt es die Meinung vieler Tierschützer: „As long as you can see the floor, there‘s room for more!“) Es schickte uns im darauf folgenden Sommer eine weitere Mamakatze mit fünf Babys im Schlepptau vorbei (von denen zwei weitere Bübchen bei uns blieben, wir nannten sie Felix und Merlin). Und weil das Universum das wohl alles sehr amüsant fand, standen im Herbst desselben Jahres noch unsere finnischen Nachbarn mit einem schwarz-weißen Katerchen auf dem Arm vor der Türe: Das Kerlchen war ihnen während der Sommermonate zugelaufen, aber da ihr alter Hund mit dem Familienzuwachs nicht einverstanden war und sie für die Wintermonate auch nach Finnland zurückreisen wollten, wussten sie nun nicht, wohin mit dem Kater. Und da hatten sie sich gedacht, wo wir doch eh schon so viele hätten ... Was sollten wir machen? Donde comen 5, comen 6, wie man hier sagt. Wir seufzten einmal halblaut und dann zog auch noch Moritz bei uns ein.

Alle unsere Katzen haben ihre Eigenheiten; sie sind wirklich kleine Persönlichkeiten. Jede hat ihre Marotten und Vorlieben oder irgendetwas, was sie von den anderen abhebt. Felix zum Beispiel ist ein großer Vielfraß (einwandfrei der Moppeligste aus der Truppe!), und außerdem ein kleiner Angsthase. Alles, was irgendwie neu oder anders als gewohnt ist, lehnt er strikt ab. Da er und sein Bruder Merlin im Frühling geboren sind, waren sie zum Beispiel schon gute sieben Monate alt, als sie den ersten Regenschauer ihres Lebens abbekamen - den Sommer über war kein Tropfen gefallen, sie kannten nur das Wasser aus ihren Näpfen. Nun kam aber plötzlich völlig unerwartet Wasser von oben - und dann gleich noch so viel! Felix saß gerade im Hof, als der erste Regenguss des Spätjahres herunterprasselte (hier ist es tatsächlich oft so, als würde jemand einen Wasserhahn aufdrehen - dann platscht es ein paar Minuten wie wild, und ebenso schnell ist der Zauber wieder vorbei). Er fiel zunächst mal in eine Art Schockstarre - als er dann schon ganz nass war, flüchtete er unter einen Dachvorsprung und fing jämmerlich an zu schreien vor Angst. Ich stand ungefähr einen Meter entfernt unter der offenen Terrassentür und versuchte, ihn ins Trockene zu locken, aber keine Chance. Der arme Kater muss wohl geglaubt haben, das Ende der Welt sei gekommen, jedenfalls rührte er sich nicht vom Fleck und maunzte einfach nur weiterhin herz- und trommelfellzerreißend. Wir konnten nicht anders, wir mussten furchtbar lachen, was natürlich sehr gemein von uns war! Felix war denn auch, nachdem er sich mit Nachlassen des Regens doch noch ein Herz gefasst und ins Haus gestürmt war, erst mal ziemlich beleidigt. Wir hatten in seinen Augen ganz offensichtlich den Ernst der Lage nicht im Geringsten begriffen! Nach und nach hat er dann doch noch verstanden, dass Regen zwar unangenehm, aber nicht gefährlich für ihn ist, aber richtig geheuer ist ihm die Sache bis heute nicht.

Felix‘ Bruder Merlin dagegen ist ganz im Gegensatz zu ihm ein großer Regenfan - er kommt bei Regengüssen gern pitschnass und gut gelaunt nach Hause, als hätte er es geradezu drauf angelegt, seinem rabenschwarzen Fell mal eine Extra-Spülung mit weichem Wasser zu gönnen, statt sich irgendwo unterzustellen. (Wird ja in Schönheitsratgebern für den besonderen Haarglanz auch gern so empfohlen!) Er lässt sich dann mit großem Genuss von uns abtrocknen und schnurrt dabei in den höchsten Tönen. Wahrscheinlich ist das sein ganz persönliches Wellness-Programm. Merlin ist unser "Geisterkater", so genannt, weil man ihn praktisch nie tagsüber sieht; wir haben nicht die leiseste Ahnung, wo der sich in dieser Zeit immer herumtreibt. In der Regel kommt er erst relativ spät abends - so gegen, 22, 23 Uhr - nach Hause; oft will er dann auch nur schnell etwas essen und verschwindet auch gleich wieder, ein lautloser schwarzer Schatten in der Nacht. Wenn er heimkommt, sieht er immer aus wie frisch aus dem Ei gepellt - er hat nie auch nur eine Klette irgendwo hängen, ist immer super sauber und sein Fell pure Samt und Seide. Wäre er Fremden gegenüber nicht so schüchtern, würde ich annehmen, er habe irgendwo ein zweites Zuhause, wo er seine Tage auf einem Dekokissen liegend verbringt, aber das kann ich mir bei einem so misstrauischen Kerlchen eigentlich kaum vorstellen. Oft sehen selbst wir ihn tagelang nicht, vermutlich schleicht er sich dann nachts irgendwann ins Haus, frisst etwas und stiehlt sich wieder davon. Unterbrochen wird sein Einzelgängertum von gelegentlichen unkontrollierten Schmuseanfällen, bei denen man nie genau weiß, wann sie auf einen zukommen - gern auch mal nachts um halb drei, er sieht das mit dem Tag-Nacht-Rhythmus nicht so eng. Dann springt er aufs Bett, rammt einem so lange seinen dicken Katerkopf unters Kinn, bis man aufwacht, und dann wird gekuschelt und geschnurrt was das Zeug hält. Aber nur dann, wenn ihm danach ist, bitte! Ansonsten schaut er einen (sollte man versehentlich von sich aus mal die Initiative ergreifen und ihn streicheln wollen) an, als hätte er einen noch nie gesehen und flüchtet empört vor so viel menschlicher Distanzlosigkeit. Mein Mann verdächtigt Merlin übrigens, regelmäßig durch ein Wurmloch in ein anderes Universum zu wechseln - man könnte es fast glauben.

Mio dagegen ist ein echtes Mamakind und leidet - warum auch immer - unter enormen Verlustängsten. Vielleicht hat er ja auch irgendein versprengtes Hütehund-Gen in seiner Ahnenreihe, genau weiß ich es nicht. Er geht zwar selbst liebend gerne stundenlang streunen, aber wenn er dann nach Hause kommt, sollen bitte möglichst alle anderen auch da sein, so hat er es am liebsten. Besonders hasst er es, wenn er daheim ist und ich das Haus verlassen will, da kann er regelrecht panisch werden. Mio bringt es fertig und verfolgt mich auf dem Weg zum Auto unsere ganze Straße hinunter, laut jammernd und klagend, weil er nicht allein zurückbleiben will. Er maunzt dann keineswegs einfach nur, nein, er stimmt das typische, lang gezogene Katerjaulen an, das man sonst eher aus der Balzzeit kennt (damit keine Missverständnisse aufkommen: selbstverständlich sind alle unsere Katzen kastriert!) und das weithin zu hören ist. Mir treibt das die Schamröte ins Gesicht, weil ich jeden Moment damit rechne, dass eine zornige Nachbarin die Tür aufreißt und mich zur Rede stellt, was ich denn eigentlich mit dem armen Kater anstelle - es hört sich nämlich ungefähr so an, als würde man ihm gerade bei lebendigem Leib das Fell abziehen. Also kehre ich noch mal um, nehme Mio auf den Arm und bringe ihn zurück ins Haus, bevor ich mich auf den Weg mache. Durch die geschlossene Tür hört man ihn dann wenigstens nicht in der ganzen Siedlung. Gelegentlich sind wir auch bei deutschen Freunden zum Grillen eingeladen; sie wohnen in der Straße über uns. Natürlich sitzen wir dann draußen, und wenn ich nicht aufpasse und den ganzen Abend über flüstere, dann hört Mio mich dort reden, baut sich auf der Straße vor dem Garten auf und stimmt so lange sein klagendes Geheul an, bis ich die Grillrunde fluchtartig verlasse und nach Hause komme. Man möchte ja doch keine Anzeige wegen nächtlicher Ruhestörung riskieren ... Mio Jammersänger hat mit seinem Gejaule aber auch schon sich und seinem Bruder Mikesch das Leben gerettet: Als die beiden einmal nachts auf einem ihrer Streifzüge irgendwo einen Giftköder erwischt hatten und sich in schlimmer Verfassung nach Hause schleppten, weckte Mio uns mit seinem durchdringenden Klagegesang aus dem Tiefschlaf, so dass wir mit den beiden gerade noch rechtzeitig in der Tierklinik ankamen.

Der absolute Clown der Truppe ist aber Moritz, den uns damals die finnischen Nachbarn vorbeigebracht haben. Er ist der Sozialminister unter unseren Katzen; der einzige, der sich jedes Mal ein Loch in den Bauch freut, wenn Besuch kommt oder er neue Bekanntschaften schließen kann, sei es mit Zwei- oder Vierbeinern. Moritz liebt alle und jeden, der nicht bei drei auf dem Baum ist. Unsere ganze Straße kennt den kleinen schwarz-weißen Kater, der original aussieht wie der auf den Felix-Packungen. (Wir hätten ihn sicher auch Felix getauft, wenn der Name bei uns zum Zeitpunkt seiner Ankunft nicht schon vergeben gewesen wäre.) Moritz ist überall zuhause, er ist da ganz flexibel und seinem Charme kann keiner widerstehen. Er marschiert in jedes Haus in der festen Überzeugung, dass jedermann auf der Welt ihm wohl will und jedermann über seinen Besuch natürlich von Herzen erfreut sein muss: „Hallo, ich bin der Moritz, und wer bist du?“ Seit Moritz bei uns ist, weiß ich über viele unserer Nachbarn mehr, als ich je wissen wollte: Ich weiß, was es drei Häuser weiter zum Abendessen gibt, denn die Nachbarin von dort schickt mir über Facebook Fotos von Moritz, wie er gerade in ihrer Küche auf der Anrichte die entsprechenden Vorbereitungen inspiziert. Ich weiß, dass ein anderer Nachbar an Depressionen und Schlaflosigkeit leidet, wovon Moritz profitiert, weil der sich gern mal bis nachts um zwei, halb drei bei dem jungen Mann auf der Couch für ein Schläfchen einrollt, bevor er wieder auf Tour geht. (Eigentlich mag dieser Nachbar gar keine Katzen, hat er mir erklärt, aber Moritz mag er halt doch irgendwie ...) Und ich habe auch unsere finnischen Nachbarn, denen wir Moritz ursprünglich zu „verdanken“ haben, durch ihn viel besser kennengelernt. Wir machen seit einem Jahr jetzt nämlich „Catsharing“ mit denen. Genau, Catsharing, nicht Carsharing. Das Konzept stammt natürlich auch von Moritz; ich komme gleich noch drauf. Vorher möchte ich bloß noch erwähnen, dass vermutlich auch umgekehrt meine Nachbarn dank Moritz mittlerweile erheblich mehr über mich wissen, als sie eigentlich wissen wollten. Zum Beispiel, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe.

Schuld daran war ein Autounfall, den Moritz hatte, und zwar im Sommer, nachdem er bei uns eingezogen war. Eines Tages kam er nicht nach Hause, was uns zwar wunderte, aber richtig Sorgen machten wir uns eigentlich erst am zweiten Tag seiner Abwesenheit, schließlich war er schon immer sehr unternehmungslustig gewesen. Moritz ist auch bei weitem der neugierigste unter unseren Katern; er kommt auf Ideen, auf die sonst keiner kommt - beispielsweise ganz oben auf die Küchenhängeschränke zu springen und im Brotkörbchen dort ein Nickerchen zu halten. Trotzdem ist er eigentlich sehr zuverlässig in seinen Routinen, und einfach wegzubleiben passte nicht zu ihm. Wir suchten ihn überall, aber vergeblich. Am vierten Tag, war er plötzlich wieder da - lag einfach im Wintergarten an seinem angestammten Platz. Wir hoben ihn hoch und drückten ihn freudig an uns. Das fand er aber gar nicht gut, denn wie sich herausstellte, hatte er eine gebrochene Hüfte, der arme Kerl. Äußerlich waren kaum Verletzungen zu erkennen, nur ein paar leichte Abschürfungen, aber das Röntgenbild beim Tierarzt ließ keinen Zweifel. Genau werden wir es wohl nie erfahren, aber vermutlich hatte ihn ein Auto erwischt, und zwar gleich am ersten Tag seines Verschwindens; die Verletzung war nicht mehr ganz frisch. Wo er in den Tagen seither gewesen war, und wie er es mit der gebrochenen Hüfte überhaupt geschafft hatte, sich nach Hause zu schleppen, blieb ein Rätsel. Es war ein komplizierter Bruch; mit einem einfachen Gips war es da nicht getan. Unser Tierarzt erklärte uns, wir könnten entweder das Bein operieren, mit einem externen Gestell über zwei Monate die Knochentrümmer fixieren, und dann hätten wir eine Chance, dass der Kater das Bein wieder weitgehend normal gebrauchen würde. Oder wir könnten das Ganze einfach mit Schmerzmitteln behandeln und so zusammenwachsen lassen - dann würde der Kater das Bein zwar nicht mehr benutzen können, aber Katzen kämen auch gut mit drei Beinen zurecht. Natürlich überlegten wir keine Sekunde lang - unser agiler Moritz sollte nach Möglichkeit seine vier Beine behalten. Das würde zwar teuer werden, aber wir haben ja sonst keine kostenintensiven Hobbys ...

Gemeinsam mit einem extra aus Las Palmas angereisten Traumatologen operierte Mariano also unseren Unglückswurm. Die OP an sich überstand Moritz gut, blöd war anschließend die Sache mit dem „fixateur externe“, den er zwei Monate tragen musste: eine sperrige Metallkonstruktion, die außen am Bein dran hing und an mehreren Stellen mit dem Knochen verschraubt war, um die einzelnen Stücke in Position zu halten. Meine ursprüngliche Sorge, Moritz könnte versuchen, sich dieses seltsame Metallteil aus dem Bein zu reißen, war unbegründet, er gewöhnte sich schnell daran und beachtete es dann nicht weiter. Schwieriger war es mit dem Freigang. Alle unsere Katzen können eigentlich jederzeit kommen und gehen, wie es ihnen beliebt, und Moritz verlangte, sobald es ihm etwas besser ging, auch wieder energisch nach draußen. Was bedeutete: er setzte sich vor die Terrassentür und maunzte beharrlich und anklagend vor sich hin, bis wir kurz vor einem Nervenzusammenbruch standen. Wir konsultierten also wieder den Tierarzt. Eigentlich, so Mariano, wäre es ganz gut, wenn der Kater ein bisschen Bewegung bekäme, nur müsste man halt gut aufpassen, dass er mit dem Gestell nicht irgendwo hänge bliebe und sich verletze. Leicht gesagt! Mariano grinste: Wir könnten es ja mal mit einer Leine versuchen, manche Katzen würden das durchaus akzeptieren.

Moritz akzeptierte die Leine tatsächlich nach kurzem Überlegen, der Kater ist ja schlau und verstand schnell, dass die Alternative zu dem komischen Ding Stubenarrest war. Er wählte also das kleinere Übel und ließ sich fortan artig zweimal täglich das Brustgeschirr, dass wir gekauft hatten, anlegen und an die Leine nehmen. Allerdings bestand er darauf, dass er nun mal Frühaufsteher sei und trotz seiner derzeitigen Behinderung gern den frühen Vogel, der den Wurm fängt, zumindest im Auge behalten würde. Um seinen Wunsch zu verdeutlichen, gewöhnte er es sich an, beim ersten Streifen Tageslicht - im Hochsommer zeigt sich der bei uns meist gegen sechs Uhr morgens - auf mein Kopfkissen zu springen und mir energisch ins Ohr zu maunzen. (Woher der Kater weiß, wo mein Gehörgang sitzt und dass es am wirkungsvollsten ist, wenn er direkt da rein schreit, muss ich noch rausfinden.) Aus dem Tiefschlaf gerissen, torkelte ich dann mit halb geschlossenen Augen ins Wohnzimmer, streifte ihm die Leine über und ging mit ihm nach draußen.

Er entwickelte - flexibel, wie er ist - schnell eine neue, der veränderten Situation angepasste Routine: Erst mal balancierte er auf der Gartenmauer entlang und verschaffte sich einen kurzen Überblick über sein Revier. Dann wartete er höflich, bis ich ihm die Gartentür öffnete, um dann - einer von ihm fest gelegten Route folgend - einen größeren Rundgang um den Block zu starten. Ich immer widerspruchslos hinterher - im Unterschied zu einem Hund ließ Moritz sich nämlich ganz und gar nicht auf Diskussionen darüber ein, wo es hin gehen sollte oder welches Tempo dabei angeschlagen werden sollte. Er bestimmte, und basta. Wenn ich schon drauf beharrte, ihn nur an dieser dämlichen Leine nach draußen zu lassen, dann hatte ich mich seiner Meinung nach unterwegs gefälligst wenigstens nach ihm zu richten, nicht umgekehrt. Versuchte ich gelegentlich mal, sacht an der Leine zu ziehen, weil er schon seit zehn Minuten an derselben Stelle herumsaß und sinnend in die Gegend schaute, strafte er mich mit einem Blick tiefer Verachtung und ließ sich demonstrativ auf die Seite plumpsen. Die Botschaft war eindeutig. Mio, Mikesch und Felix fanden das Spiel übrigens auch sehr interessant und schwirrten gerne bei unserem morgendlichen Leinengängen um uns herum. Meinen Nachbarn, die verschlafen mit ihren Kaffeetassen aus dem Haus traten, um den neuen Tag zu begrüßen, bot sich in diesen Sommerwochen deshalb zwischen sechs und sieben Uhr morgens ein ungewohnter Anblick: eine verstrubbelte, von Gähnkrämpfen geschüttelte Blondine im Schlafanzug mit putzmunterem, schwarzweißem Kater an der Leine, dicht gefolgt von drei weiteren Katern, die das Gespann in unterschiedlichen Abständen umkreisten. Ich möchte, ehrlich gesagt, gar nicht so genau wissen, was die sich dabei gedacht haben. „La loca de los gatos“ ... „die spinnen, die Deutschen“ ... „wie traurig, noch so jung und schon komplett gaga“ ...

Wenn es auch leider meinen Ruf als weird old cat lady in der Siedlung vermutlich ein für alle Mal besiegelte - das morgendliche Rehaprogramm zeitigte Erfolg: Moritz gebrauchte das geschiente Beinchen mehr und mehr, und als Mariano nach zwei Monaten täglichen Spaziergangtrainings den „fixateur externe“ entfernte, da konnte Moritz wieder nach Herzenslust mit allen seinen vier Beinen rennen und springen. Wer es nicht weiß, sieht nicht, dass sein rechtes Hinterbein ein klein wenig steifer geblieben ist als die anderen drei. Alles in allem hat das Kerlchen ein Riesenglück gehabt!

Im Spätjahr nach diesem denkwürdigen Sommer kehrten unsere finnischen Nachbarn - die, die uns Moritz ursprünglich gebracht hatten - zum Überwintern aus Helsinki in ihr hiesiges Domizil zurück. Uns fiel gleich auf, dass sie den großen alten Hund, der sie sonst immer begleitet hatte, dieses Mal nicht dabei hatten. Sie hatten ihn, wie die Frau uns auf Nachfrage erzählte, im Sommer einschläfern lassen müssen und seither keinen neuen mehr gewollt. Besonders der Mann - der ohnehin immer schon extrem wortkarg und verschlossen gewesen war - wirkte in diesem Herbst noch düsterer und unnahbarer als sonst. Kaum, dass er sich bei gelegentlichen Begegnungen auf der Straße noch zu einem grüßenden Kopfnicken hinreißen ließ. Seine Frau huschte wie ein trauriger kleiner Schatten neben ihm her. Die meiste Zeit sah und hörte man nichts von den beiden; sie hielten großen Abstand zu allen Nachbarn, auch zu uns, pflegten mit niemandem Kontakte und waren offensichtlich sorgfältig auf ihre Privatsphäre bedacht. Das fleischgewordene Klischee vom schweigsamen, mürrischen Finnen.

Umso verblüffter muss ich ausgesehen haben, als einige Wochen später abends um 22 Uhr unsere Türklingel läutete und der Finne auf unserer Schwelle stand. Mit Moritz auf dem Arm. Auf Englisch erklärte er, Moritz habe wohl vor ein paar Tagen herausgefunden, dass sie diesmal ohne Hund hier seien, und habe das Vakuum genutzt, um es sich seither die meiste Zeit bei ihnen im Haus auf der Couch gemütlich zu machen. Sie hätten sich darüber auch gefreut, denn Moritz sei ihnen sehr ans Herz gewachsen, aber sie wüssten ja, dass der Kater uns gehöre und deshalb wolle er ihn doch zumindest abends bei uns abliefern, damit wir uns keine Sorgen um das Kerlchen machten. Wir lachten, bedankten uns und nahmen Moritz mit hinein. Das war der Beginn eines neuen, etwas seltsamen Rituals: Moritz verschwand ab sofort stets am frühen Morgen, ließ sich den ganzen Tag über nicht blicken, und abends standen dann irgendwann entweder Herr oder Frau Finne mit ihm auf dem Arm vor der Türe, um ihn mit schuldbewusstem Blick für die Nacht abzuliefern. Und morgens war Moritz wieder weg - es war klar, der Kater hatte sich ein neues Zuhause gesucht, in dem er Einzelkind spielen konnte.

Kurzfristig reagierte ich leicht verschnupft, schließlich hatte ich mich für diesen Kater gerade im Sommer zwei Monate lang jeden Morgen zu unchristlich früher Zeit aus dem Bett gequält und mich zum Gespött der ganzen Nachbarschaft gemacht. Und jetzt ließ er uns hier einfach so sitzen und zog zu den Nachbarn? Andererseits - ich konnte den Kater schon verstehen: er war als letzter zu unserer Truppe dazu gekommen und stand in der Rangordnung entsprechend weit unten. Eigentlich funktionierte das Zusammenleben die meiste Zeit bis auf kleinere Kabbeleien hier und da gut, aber leider musste Moritz ja Aufmerksamkeit, Futter, Kuschelplätzchen und Zeit, die wir zu vergeben hatten, von Anfang an mit fünf anderen Katzen teilen. Bei unseren Finnen-Nachbarn dagegen war er Alleinherrscher und wurde - wie sie uns verschämt gestanden - natürlich nach Strich und Faden verwöhnt: Leckerli, so viele nur in ihn hineinpassten, eine Kuschelhöhle hier, ein Spielzeug dort ... da blieben keine Wünsche offen. Ihr Mann, so vertraute uns die Nachbarin in ungewohnter Redseligkeit irgendwann an, sei nach dem Tod des alten Hundes regelrecht depressiv geworden, erst seit Moritz sich bei ihnen eingenistet habe, helle sich seine Stimmung zusehends auf. Er liebe den Kater heiß und innig und die beiden hielten jeden Nachmittag gemeinsam Siesta auf dem Wohnzimmersofa - Moritz zufrieden auf den Bauch des schlafenden Finnen. Heimwerkere ihr Mann mal wieder (sein Lieblingshobby), sitze Moritz daneben und schaue stundenlang aufmerksam zu. Für ihn sei der Kater die beste Therapie, um über den Verlust hinwegzukommen. Sie habe ihn erst jetzt wieder richtig lächeln sehen.

Mehr brauchte es natürlich nicht, um meine Eifersuchtswallung abzuwürgen und mich weichzukochen. Unser Moritz als Therapiekater, was hätte ich da noch einwenden können? Als die Nachbarn am nächsten Abend wieder vor der Tür standen, um Moritz abzugeben, schickte ich sie mitsamt Kater wieder nach Hause und erklärte, sie könnten ihn sehr gerne drüben behalten, wo er sich doch bei ihnen so wohl fühle. Für uns sei das völlig okay, solange wir wüssten, dass es Moritz gut gehe. Ein bisschen wanden sie sich noch, es war ihnen wirklich peinlich, uns Moritz sozusagen wieder abspenstig zu machen, aber ich blieb hartnäckig, und die beiden sonst so verschlossenen Menschen strahlten. Nur eins machte ihnen noch Sorgen: dass sie Moritz ja nicht mit nach Finnland nehmen könnten, wenn sie im Frühjahr dorthin zurück reisen würden. In Helsinki haben die beiden nur eine Wohnung; er könnte dort nicht nach draußen und wäre sicher sehr unglücklich über den Verlust seiner Freiheit. Und außerdem machen sie die Reise von hier nach Finnland und zurück immer mit dem Auto - insgesamt sind sie neun Tage unterwegs und legen über 5.500 km zurück. Nichts, was man einem Kater zumuten könnte. So entstand das Konzept des „Catsharing“ zwischen uns: wir vereinbarten, dass Moritz während der Wintermonate ganz offiziell zu ihrem Kater werden würde, und wir ihn dann im März, wenn sie nach Finnland zurückgingen, einfach wieder zurücknehmen würden. Dass Moritz bei der Sache mitspielen würde, bezweifelte ich nicht einen Moment.

Und so war es dann auch. Moritz residierte den ganzen Winter über glücklich und zufrieden bei den Finnen und tanzte den beiden ordentlich auf der Nase herum. Ab und zu schaute er bei uns herein, um Hallo zu sagen, ein paar zusätzliche Streicheleinheiten und Leckerli zu kassieren, und uns dran zu erinnern, dass wir uns für den Bedarfsfall bitte weiterhin zu seiner Verfügung zu halten hätten. Dann marschierte er wieder in sein Einzelkind-Zuhause zurück und alle waren‘s zufrieden.

Bis es dann Ende März war und unsere Nachbarn ihre Abreise nach Helsinki nicht länger hinauszögern konnten. Der Abschied fiel ihnen furchtbar schwer - als sie Moritz an diesem Morgen zu uns brachten, begleitet von einer Riesentüte voller Spielzeug, das sie für ihn gekauft hatten, und Bergen seines Lieblingsfutters, hatten sie beide Tränen in den Augen. Der Mann hatte auf dem Balkon des Hauses ein Katzenhäuschen für Moritz gebaut, das er von außen erreichen konnte und in dem er auch im Sommer einen geschützten Schlafplatz vorfinden würde. Rund ums Haus hatte er Kameras installiert, die mit seinem Computer in Finnland verbunden sein würden, damit er Moritz wenigstens aus der Ferne im Auge behalten konnte, wenn dieser durch den Hof oder den Garten spazierte. Am Abend des Abreisetages rief seine Frau - schon von der Autofähre aus - noch einmal weinend an, um sich zu vergewissern, dass Moritz auch wirklich zum Fressen bei uns erschienen war und nicht etwa hungrig und heimatlos verzweifelt auf ihrer Türschwelle kampierte. Tat er natürlich nicht - er war ja nicht dumm und, sobald sein Magen knurrte, prompt bei uns zum Essenfassen erschienen.

Moritz stellte sich, elastisch wie immer, einfach auf die neue Situation ein. Sobald er begriffen hatte, dass das Personal in seinem Hauptwohnsitz derzeit nicht mehr verfügbar war, konzentrierte er sich einfach verstärkt auf seine diversen Nebenwohnsitze in der Straße. War der eine Nachbar nicht zu Hause, schaute er eben bei einem anderen vorbei. Irgendwo warteten mit Sicherheit immer ein weiches Bettchen und ein gefülltes Schüsselchen auf ihn. Mit diversen Katzen und Hunden in der Straße pflegte er Freundschaften, und nicht selten konnte man ihn mit einem kleinen schwarzen Terriermix durch die Gärten toben sehen, mit dem er sich besonders gut verstand (und dem er, frech wie Rotz, gern das halbe Futter wegfraß). Unter den Nachbarn wurden reihum Tipps ausgetauscht, was Moritz derzeit wohl für eine Futtersorte bevorzugte, und wir - als zentrale Sammelstelle für Moritz-Informationen - bekamen regelmäßig berichtet, wann er wo aufgetaucht war und wo er vergangene Nacht geschlafen hatte. Dann schickte ich Mails und aktuelle Fotos von Moritz nach Finnland, um unsere finnischen Catsharing-Partner zu beruhigen - was auch bitter nötig war! Denn wenn der Finne den Kater mal länger als zwei, drei Tage nicht auf den Bildern seiner Kamera zu Gesicht bekam, wurde er sofort nervös, machte sich Sorgen und schickte mir eine aufgeregte eMail. (Ich wiederum machte mir in dieser Zeit einige Sorgen um seinen geistigen Zustand - ob es wohl gesund war, stundenlang in Helsinki vor dem Computer zu sitzen und auf einem Überwachungsvideo nach einem Kater auf Gran Canaria zu suchen??) Seine Frau dagegen begann angesichts von Moritz‘ Anpassungsfähigkeit Zweifel zu entwickeln, ob er sich im kommenden Winter bei ihrer Rückkehr überhaupt noch an sie erinnern würde. Sie freute sich zwar einerseits, dass Moritz so gut ohne sie zurecht kam, aber sie fürchtete auch, dass er ihnen nicht verzeihen würde, dass sie ihn allein gelassen hatten.

Sie hätte sich nicht einen Moment lang Gedanken machen müssen. Sie hatten uns ihren Ankunftstag in der Siedlung vorab mitgeteilt, und am Abend beim Heimkommen sahen wir ihr Auto auf dem gewohnten Parkplatz stehen. Da es schon spät war, wollten wir nicht mehr klingeln und nach Moritz fragen. Das erübrigte sich auch. Am darauf folgenden Morgen gingen wir zum Einkaufen; der Finne stand im Hof und strahlte uns an, als er uns sah. Von finnischer Verschlossenheit, Düsterkeit und Distanz keine Rede mehr. „Moritz is in our house since yesterday ...“, setzte er an. Dann versagte ihm die Stimme und seine Augen glänzten feucht. Er legte beide Hände auf sein Herz. Moritz war heimgekehrt.

Da sag noch einer, die Finnen wären mürrisch und wortkarg. Ich kann über dieses Klischee ja nur noch lächeln: Man drücke ihnen einfach einen kleinen, schwarz-weißen Kater in die Hand, und schon schmelzen sie wie Butter in der Sonne ...