Die Guanchen - Urväter der kanarischen Lässigkeit?


Vergangene Woche haben wir es endlich mal hinbekommen, eine echt peinliche Bildungslücke nach über einem Jahr Aufenthalt in Agaete zu schließen: Wir waren im Museum der Cueva Pintada in Gáldar. Eigentlich hatten wir uns ja vorgestellt, das mal gemeinsam mit einem unserer doch zahlreichen Besucher aus Deutschland zu absolvieren - man sollte doch annehmen, dass diese, kulturbeflissen wie wir Deutschen doch meist sind, ein gewisses Interesse an den Ureinwohnern Gran Canarias und ihrer Geschichte aufbringen würden - aber nein: Sämtliche unserer Besucher hatten das Jahr über immer dankend abgewinkt, wenn wir das Museum als mögliches Ausflugsziel vorgeschlagen hatten. Geschichte? In einem geschlossenen Gebäude? Während draußen die Sonne scheint? Och nee ....

Jetzt sind wir also dann doch alleine hingepilgert, eigentlich per Zufall (das Geschäft, in dem wir in Gáldar eigentlich einkaufen wollten, war nämlich geschlossen, der Himmel bewölkt und der Nachmittag ohnehin schon angebrochen) - und was soll ich sagen: es war sehr spannend und beeindruckend! Von außen sieht das Museum gar nicht so groß aus, erst von innen wird einem klar, wie groß die Fläche ist, die da überbaut wurde, um die Ausgrabungsfunde von Gáldar vor Wind und Wetter zu schützen - 6.000 qm insgesamt! - und den Besuchern eine bequeme Besichtigungstour zu ermöglichen.
Die von unseren bisherigen Besuchern so schmählich mit Desinteresse gestraften Ureinwohner Gran Canarias hießen Guanchen und stammten der Forschung zufolge wohl von nordafrikanischen Berbern ab. Vermutlich besiedelten sie Gran Canaria bereits um 500 v. Chr. - scheinbar gefiel es ihnen hier dann gleich so gut, dass sie ihre Seefahrerkünste (die sie ja besessen haben müssen, sonst wären sie gar nicht bis hierher gekommen) flugs vergaßen und es sich auf dem Archipel so richtig gemütlich machten. Aber so richtig. Gáldar - oder, wie es zu dieser Zeit hieß: Agaldar - war damals die nördliche Inselhauptstadt und Sitz der Inselkönige, der guanartemes. Bis Mitte des 15. Jahrhunderts behelligte die Guanchen keine Menschenseele; es wird vermutet, dass sie sich nicht mal zwischen den einzelnen kanarischen Inseln hin- und herbewegt haben. Man sieht es richtig vor sich, wenn man im Museum umherschlendert: Ein jeder Guanche dümpelt so unter der warmen Sonne auf der Insel, auf der er geboren wurde, vor sich hin, verbringt seine Tage mit Ackerbau (vor allem Getreide und Hülsenfrüchte) und Viehzucht (vor allem Schafe, Schweine und Ziegen) und reißt sich ansonsten offensichtlich kein Bein aus. 30.000 Einwohner hatte Gran Canaria zu dieser Zeit, und bis auf kleinere Querelen hier und da scheint es ziemlich friedlich zwischen den einzelnen Clans zugegangen sein.

Das änderte sich schlagartig, als die Spanier sich mal wieder zu langweilen begannen und ihnen 1402 einfiel, dass es da noch ein paar Inseln gab, die man sich doch unter den Nagel reißen könnte. Wie anderenorts auch schon, taten sie das schnell, effizient und blutig. Die Guanchen leisteten zwar erbitterten Widerstand, aber 1483 machte Pedro de Vera auf Gran Canaria den Sack zu. 1495 fiel als letzte Insel Teneriffa in die Hände der Eroberer. Viele Guanchen starben während der Kämpfe oder entschieden sich für den Freitod nach der Niederlage. Die Überlebenden wurden versklavt oder verschleppt und zwangsweise christianisiert. Von 30.000 blieben lediglich knapp 3.000 Guanchen übrig, die sich nach und nach mit den Spaniern mischten.

Man fragt sich, wie die Guanchen dem Ansturm der Spanier überhaupt so lang standhalten konnten, wenn man sich ihre kulturellen „Errungenschaften“ in den Vitrinen so anschaut. Dank der Insellage und der völligen Abgeschiedenheit, in der sie lebten, waren die Guanchen nämlich in einer Art Steinzeit stecken geblieben. Während in Europa gerade der Buchdruck erfunden wurde, lebten sie in Höhlen und Steinhäusern, töpferten immer noch ohne Töpferscheibe, hatten keine Ahnung von Metallverarbeitung und jagten mit Steinmessern und hölzernen Wurfspeeren. Sicherlich keine Waffen, mit denen man den Spaniern um 1400 noch viel Angst einjagen konnte! Kleidung und Schuhe stellten sie aus gegerbten Tierfellen her, Schmuck wurde aus Knochen, Muscheln oder Steinen gefertigt und neben den Wandmalereien in der cueva pintada (einfachste geometrische Formen in grün, weiß und rot) erscheinen einem die Höhlenmalereien von Lascaux plötzlich geradezu exquisit fein gefertigt (und die stammen keineswegs von 1400 nach, sondern vermutlich von 17.000 vor Christus!). Man vermutet, dass es sich bei den Höhlenmalereien in Gáldar um einen einfachen Mondkalender gehandelt haben könnte, der beispielsweise Zeiten von Aussaat und Ernte festlegte. Schriftzeichen, Währungs- oder Zahlensysteme gab es nicht, der (minimale) Handel untereinander lief über Tauschgeschäfte. Während in Europa Nikolaus Kopernikus das heliozentrische Weltbild des Sonnensystems postulierte, Filippo Brunelleschi die Zentralperspektive erfand und auch Leonardo da Vinci bereits in den Startlöchern des Lebens scharrte, saßen die Guanchen also noch gemütlich in Felle gewickelt ums Höhlenfeuer und diskutierten anhand von grünen, weißen und roten Dreiecken, wann es Zeit sei, das Feld das nächste Mal umzugraben. Oder so ähnlich.

Da fragt man sich doch: Wieso hat sich dieses Völkchen in den fast 2000 Jahren, die es ja Zeit dafür gehabt hätte, eigentlich so wenig weiterentwickelt? Wieso schien es ihm so wenig interessant, die Insel(n) zu verlassen, weshalb hat es selbst offenbar nie Versuche unternommen, aufs Meer hinauszufahren, nicht mal zu den benachbarten Inseln? Hat sie das nicht gereizt oder schien ihnen das zu gefährlich? Brachte der begrenzte Genpool auf der Insel einfach zu wenig helle Köpfe hervor, die neue Erfindungen hätten machen können oder die kulturelle Entwicklung vorangetrieben hätten? Lohnte es sich nicht, Schriftzeichen oder Währungssysteme zu erfinden, weil sowieso keiner da war, mit dem man hätte ausführlichen Handel treiben können? Oder waren die Guanchen einfach alle so zufrieden mit ihrem Leben, so, wie es war, dass schlicht keiner auf die Idee kam, irgendetwas zu verändern oder zu verbessern? (Denn natürlich: der Motor jeden Fortschritts ist Unzufriedenheit.) Hatten wir hier die Wurzel der kanarischen Lässigkeit gefunden?
German (ein guter Bekannter und Coordinador Técnico de Desarrollo Local, Empleo, Formación y Turismo in Agaete) hat sich oft genug uns gegenüber beklagt, wie träge, wenig eigeninitiativ und jeder Veränderung abhold seine Landsleute doch seien. Wie viel Aufwand es seinerseits immer brauche, bis er jemanden für ein neues Projekt gewinnen könne! Gerade kürzlich hatte er uns von einer Initiative erzählt, die seine Kollegin und er zur Förderung des Absatzes landwirtschaftlicher Produkte im Gebiet um Agaete ins Leben gerufen hatten: Sie hatten eine Marke und ein zugehöriges Logo als Qualitätssiegel entwickelt (Saboreagaete), unter deren Dach sie lokale Produkte versammeln wollten und verschiedene Werbeaktionen geplant. Beispielsweise wollten sie Touristengruppen durchs Tal chauffieren und dabei verschiedene Erzeuger und Produzenten besuchen lassen - vor Ort sollte es dann jeweils Verkostungen der frischen Waren geben, Führungen durch die Herstellung etc. Eine fabelhafte Idee in unseren Augen, hatten wir doch in unserer alten Heimat, der Südpfalz, oft genug in Weingütern oder anderen Einrichtungen erlebt, wie gut so etwas funktionierte. German aber schüttelte genervt den Kopf, als er uns davon erzählte, hatte er sich doch gerade wieder einmal die Zähne an einem Produzenten ausgebissen. Der Mann stellt in the middle of nowhere aus Ziegenmilch ausgezeichneten Käse und Joghurt her und verkauft ihn dann kleckerweise an Leute, die zu ihm kommen oder über winzige Tante-Emma-Läden in der Nähe. Man sollte eigentlich meinen, dass ihm ein wenig Werbung sehr recht wäre - aber nein! Auf Germans Anfrage hatte er nur widerwillig gegrunzt und die Schultern gezuckt: „Was soll ich mit einem Bus voller Touristen auf meinem Hof? Die stehen mir nur dumm im Weg rum und bringen mir Unruhe rein. Will ich nicht, brauch ich nicht. Ich verkauf auch so genug Joghurt. Bleib mir ja weg mit Touristen!“ Hatte der Mann womöglich mehr Guanchenblut intus als unternehmerischen Ehrgeiz?

Das waren die Fragen, die uns so durch den Kopf gingen, während wir durch das Museum wanderten. Man kann den canarios nämlich viel nachsagen - besondere Fortschrittsbegeisterung, Unternehmungslust oder Innovationsfreude aber ganz sicher nicht. Den meisten von ihnen, das kann ich nach einem Jahr hier wirklich aus eigener Beobachtung sagen, ist es am liebsten, wenn alles so bleibt, wie es ist. So, wie die Oma es gemacht hat, so wollen sie es auch weiter machen, da weiß man, was man hat, basta! Außerdem kostet es meist weniger Energie, den Status quo aufrecht zu erhalten, als dauernd etwas zu verändern. Wenn die Umstände einem das Konservieren des Istzustands nicht erlauben, ist das entweder Anlass für eine Art Totstellreflex oder zumindest für endloses Gejammere. Oder für beides. Wenn man sich lange genug einfach nicht rührt, geht das Problem vielleicht von selbst wieder weg. Manchmal funktioniert das sogar. Sehr schön zu beobachten Anfang vergangenen Jahres, als in Maspalomas eines der größeren Winterunwetter mit einem Schlag einen großen Abschnitt des Sandstrandes weggespült hatte und Tausende von Touristen monatelang missmutig über Steine stolperten, statt vergnügt Sandburgen zu bauen. Für die dortigen Hotels und Gastronomiebetreiber eine blanke Katastrophe. Nicht nur kurzfristig, sondern mit Langzeiteffekt - schließlich kommt jemand, der gutgläubig einen Strandurlaub im Reisebüro gebucht hat und dann lediglich eine Steinwüste vorfindet, vermutlich so schnell nicht wieder.

Wäre etwas Vergleichbares in einem deutschen Touristikgebiet passiert - sagen wir Sylt - wären innerhalb von Wochen, wenn nicht Tagen sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt worden, das Problem zu lösen. Nicht so bei den canarios. Ein ganzes Jahr lang (!!) stritten das Umweltministerium, die Küstenbehörde, der Tourismusminister, Anwohner, Geschäftsleute, Gemeindevertreter, Umweltschützer und zahlreiche andere Parteien darüber, ob und wie der Strand künstlich wieder aufgeschüttet werden könne und dürfe. Solange, bis der nächste Winter da war und mit ihm starke Passatwinde aus dem Nordosten, die ganz ohne menschliche Unterstützung den Sand wieder dorthin wehten, wo ihn alle gerne haben wollten. Zweifellos hat die Vorgehensweise eine unbestimmte Zahl enttäuschter und verärgerter Touristen produziert, und die Mindereinnahmen der Gewerbetreibenden am Strand während der „sandlosen“ Zeit wurden zeitweise auf 1.500 Euro am Tag geschätzt. Aber was soll‘s? Man hat alles so gelassen, wie es war, und siehe da, es war gut so. Alles andere wäre nur unnötig verschwendete Energie gewesen. Mit einer solchen Haltung erfindet man natürlich weder den Buchdruck noch malt man ein „Letztes Abendmahl“, schon klar. Aber wahrscheinlich trudelt man dafür den Großteil der Zeit sehr entspannt durchs Leben, ganz im Hier und Jetzt!

Das Museum ist wirklich sehr schön und aufwändig gemacht - an mehreren Stellen gibt es 3D-Videos in verschiedenen Sprachen, die einen Leben und Geschichte der Guanchen quasi „live“ miterleben lassen. Das ganze Ausgrabungsareal ist, wie schon erwähnt, überdacht und von breiten Stegen durchzogen, so dass man bequem darin herumschlendern kann (alles übrigens auch 100% rollstuhlgerecht; an allen wichtigen Punkten gibt es auch Fahrstühle). Wir hatten das Glück, das Museum fast für uns allein zu haben, und eine sehr nette und engagierte Angestellte ließ es sich nicht nehmen, uns sozusagen exklusiv herumzuführen und uns die wichtigsten Dinge selbst zu erklären.
Ob unsere Hypothese über den Guanchen-Ursprung der kanarischen Lässigkeit nun zutrifft oder nicht, haben wir sie aber nicht gefragt. Ich finde die Vorstellung jedenfalls ganz reizvoll, dass die unterjochten und fast ausgerotteten Ureinwohner vermittels ihrer Erbmasse die spanischen Eroberer quasi „unterwandert“ und ausgebremst und aus den heutigen canarios die lässig-nachlässigen, gemütlichen und eher konservativen Gesellen gemacht haben, die wir täglich um uns herum erleben. Und bei denen mal ganz sicher eins feststeht: DIE segeln nirgendwo mehr hin, um sich irgendwen oder irgendwas gewaltsam anzueignen ...

Mehr aktuelle Informationen über das Museum der Cueva Pintada in Gáldar finden sich hier.