Ostern auf Gran Canaria - Eselchen, Kopftücher und Verkehrstote


Ostern ist auf Gran Canaria eigentlich das wichtigste Fest überhaupt - während der semana santa, der „heiligen Woche“ herrscht hier ein Ausnahmezustand, wie wir ihn in Deutschland so nur zwischen Weihnachten und Neujahr kennen. Die Bedeutung, die der Osterwoche hier zukommt, hätte meinem alten Religionslehrer bestimmt sehr gefallen: ich kann mich gut erinnern, wie er oft darüber räsonierte, eigentlich sei der ganze Weihnachtsrummel heidnisch, denn nicht Weihnachten, sondern Ostern käme im christlichen Glauben der höchste Stellenwert zu. Die meisten Menschen haben während der semana santa Urlaub, die Schulen machen Ferien und das ganze Alltagsleben steht im Zeichen der religiösen Traditionen. Die in Deutschland allerorten dominierenden Hasen und Schokoeier sucht man hier (außer bei Lidl!) weitgehend vergebens; Ostereiersuche und Geschenke für die Kinder gibt es keine, und man wünscht sich auch nicht - wie bei uns in Deutschland - gegenseitig „Frohe Ostern!“ Stattdessen kann man selbst in der kleinsten Ortschaft an keinem der Tage zwischen Palmsonntag (dem Beginn der semana santa) und Ostersonntag kaum einen Schritt tun, ohne in eine Prozession hineinzulaufen. Für mich, die ich kirchliche Prozessionen in Deutschland eigentlich nur am Fronleichnamstag kenne (und da oft genug leider nur in verregneter Form!), natürlich Grund genug, mir diese Bräuche genauer anzuschauen. Aufgrund der Fülle des Gebotenen hat man da lediglich die Qual der Wahl.

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Wenn ich mich an meinen Religionsunterricht im katholischen Mädchengymnasium erinnere (jaja, so was hab ich tatsächlich mal besucht!), dann wirken die hiesigen Osterbräuche auf mich sehr viel intensiver und emotional aufgeladener als das, was ich aus Deutschland kenne. Ein bisschen ist es, als würde jede Gemeinde und jeder Gläubige in der Woche vor Ostern richtig in die Passionsgeschichte „eintauchen“ - Passionsfestspiele „light“ für jedermann, könnte man vielleicht sagen. Den Beginn der semana santa markiert in Las Palmas am Palmsonntag (Domingo Ramas) die Prozession La Burrita - das Eselchen -, mit der des Einzugs Jesu in Jerusalem gedacht wird. Mehrere tausend Gläubige ziehen dabei hinter einer lebensgroßen Statue von Jesus auf der Eselin durch die Altstadt. Dabei tragen sie Bündel von Eukalyptuszweigen mit sich, die als Zeichen des Friedens und der Hoffnung gesegnet und später im Haus angebracht werden, zum Schutz vor Krankheit und anderen Übeln. Das kennen wir auch aus Deutschland, wobei dort in der Regel aus Mangel an Eukalyptus natürlich doch eher Weidenkätzchen oder Buchsbaumzweige geweiht werden. Die nächste große Prozession findet am Gründonnerstag statt und heißt El Cristo de Buen Fin („Der Christus des guten Endes“). In ihrem Mittelpunkt stehen zwei Statuen, die sonst in der Ermita del Espiritu Santo in der Altstadt Vegueta verehrt werden: besagte Christusstatue des guten Endes nämlich und eine Virgen Dolorosa. Beide stammen vom berühmten Bildhauer Luján Pérez, der im 18. Jahrhundert ganz allein die Hälfte der 27 Statuen geschaffen hat, die in der Karwoche durch die Straßen getragen werden. Jueves Santo, Gründonnerstag, ist hier übrigens - im Gegensatz zu Deutschland - ebenso Feiertag wie der Viernes Santo, der Karfreitag. Dafür gibt es hier keinen Ostermontag - eigentlich auch das eine Tradition, die besser zum biblischen Geschehen passt als die deutsche Variante, wie ich finde.

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Die Prozession, die wir uns für dieses Jahr rausgesucht hatten, heißt Las Mantillas („Die Kopftücher“) und nimmt ihren Anfang an der Kathedrale Santa Ana in der Altstadt von Las Palmas, wo sie auch wieder endet. Sie ist ganz eindeutig frauendominiert, auch wenn natürlich auch Männer in ihr mitmarschieren. Ein großer Jesus am Kreuz eröffnet sie, begleitet wird er von Frauen aller Altersstufen, vom Kindergartenmädchen bis zur Urgroßmutter, die alle große weiße Kopftücher - mantillas - tragen und damit aussehen, wie Maria mit dem Schleier, frisch aus Mel Gibson‘s „Passion Christi“ entsprungen. Ein Stück dahinter folgt eine Statue der Virgen Dolorosa, der Schmerzensmutter - und bei deren Anblick habe ich gedacht, dass es wahrscheinlich ganz gut ist, dass ich die Prozession nicht als Kindergartenmädchen das erste Mal gesehen habe, denn die hätte mir garantiert wüste Alpträume beschert: Sie ist ebenfalls lebensgroß und aus ihrer Brust ragt ein großes Schwert. Für eine leicht zu beeindruckende Kinderseele, wie meine es war, wahrlich ein entsetzlicher Anblick! Ohnehin sind die Heiligenstatuen, die hier verehrt werden, alle das, was man wahrscheinlich „volkstümlich-naiv“ nennen könnte: immer lebensgroß und naturalistisch, bemalt mit leuchtenden Farben, meist mit echten, kostbaren Kleidern geschmückt - nix mit künstlerischer Zurückhaltung, abstrakter Darstellung oder vornehmen Andeutungen! Besagter Virgen Dolorosa folgen in der Prozession ebenfalls Frauen mit mantillas, diese allerdings sind nicht weiß, sondern schwarz, oft aus wunderschöner Spitze. Sie unterstreichen die traurige Aura, die die Figur umgibt, aufs Nachdrücklichste. Der dümmste Heide muss sofort begreifen, welche Botschaft hier transportiert werden soll, und so ist das Ganze sicherlich auch gedacht. Inmitten der Gläubigen schreitet der Pfarrer mit dem Mikrofon, der den Rosenkranz vorbetet; die Umstehenden ebenso wie die Prozessionsteilnehmer respondieren gehorsam, und das eintönige Gemurmel erzeugt eine ganz eigene, selbst für vom Glauben längst Abgefallene wie mich ergreifende Atmosphäre.
Trotzdem ist die Stimmung unter den Schaulustigen überwiegend fröhlich - man lacht und plaudert, trifft Freunde und Bekannte und hält das Gesicht in den strahlenden Sonnenschein. Nur für den Moment, an dem die Heiligenbilder unmittelbar an einem vorbeigetragen werden, kehrt kurz jeweils so etwas wie Stille und Ehrfurcht ein, danach wird sofort weitererzählt. An verschiedenen Stationen macht die Prozession Halt und ein Solist singt ein kurzes a capella-Stück, belohnt jeweils vom stürmischen Applaus der Umstehenden (etwas, was in Deutschland sicher niemand in so einem Rahmen wagen würde). Im Anschluss an die Prozession stürmen alle die umliegenden Bars und Restaurants der Altstadt und die Gastwirte freuen sich über gute Geschäfte. Man isst und trinkt, um sich für die abendliche Procesión Magna, die „Große Prozession“, zu stärken, die den Höhepunkt der Osterprozessionen in Las Palmas darstellt. 14 Statuen werden dabei von drei Kirchen aus durch die Altstadt getragen. Den Abschluss des Karfreitags bildet dann die Procesión de El Retiro, die erst abends um 22 Uhr überhaupt beginnt. Spanisches Zeitgefühl eben ...

So schön ich die Osteratmosphäre auf der Insel dieses Jahr fand, ein paar Schattenseiten bringt die semana santa leider doch auch mit sich. Der gestiegene Benzinpreis ist dabei noch die harmloseste - wie fast überall sind auch hier die Preise kurz vor Ostern auf Rekordniveau geschnellt (und das hat angeblich üüüüüüberhaupt nichts mit der Reisewelle zu tun, wie ebenfalls fast überall!). Wir rieben uns verwundert die Augen, als die rote Zahl hinter Super 95 an den Tankstellen auf unglaubliche 1,10 € sprang. Dank der Subventionen und steuerlichen Vergünstigungen, die die Kanaren aufgrund der Insellage genießen, hatten wir uns an gemütliche Literpreise unter einem Euro gewöhnen können und waren jetzt fast genauso empört wie die canarios selbst ob dieser Zumutung. Glücklicherweise rückte ein Blick auf die Titelseiten von „Spiegel“ und „Bild“ im Internet unser Weltbild wieder zurecht und vermittelte uns wieder das wohlige Gefühl des Privilegiertseins in unserem neuen Leben: von 1,72 pro Liter wie in Deutschland waren wir hier doch noch ein gutes Stück entfernt.

Wesentlich schlimmer sind zu Ostern immer die Verkehrsmeldungen im Radio und Fernsehen. An jedem puente-Wochenende - also all den Wochenenden, die sich dank eines oder mehrerer Feier- und/oder Brückentage von Arbeitnehmern gut verlängern lassen - steigen die Zahlen der Verkehrstoten sprunghaft an, aber es gibt zwei Extremfälle, die in dieser traurigen Statistik immer ganz vorne liegen: einmal die puente de diciembre (die vom 6.12. - dem Día de la Constitución, der nichts mit dem Nikolaustag zu tun hat - über den 8.12. - der Inmaculada Concepción reicht) und zum anderen eben die semana santa, vor allem die Tage vom Mittwoch vor Gründonnerstag bis Ostersonntag. An diesen Tagen schnürt jeder Spanier, der halbwegs krauchen kann, sein Bündel und verreist, auf dem Festland ebenso wie hier auf den Kanaren. Überfüllte Straßen und ungeduldige Fahrer, die es nicht erwarten können, an ihr Urlaubsziel zu gelangen, sind keine gute Kombination. Die traurige Bilanz dieses Jahr: von 15 Uhr am Karfreitag bis 20 Uhr am Ostersonntag sind auf spanischen Straßen insgesamt 43 Menschen zu Tode gekommen, vier mehr als im Jahr davor. Dazu kamen noch 38 Verletzte. Und damit waren es sicherlich sehr traurige Feiertage für viel zu viele Menschen.
Auf den Kanaren äußert sich die Reiselust der Spanier über Feiertage an Ostern übrigens in einem ganz besonderen Phänomen: der Wohnwagenschwemme. Vor allem an den Stränden des Südens, aber auch anderenorts tauchen wie von Zauberhand am Mittwoch oder Donnerstag der Osterwoche zahllose Wohnmobile und Wohnwagen aus dem Nichts auf. Keine Ahnung, warum diese Art, die Ostertage zu verbringen, hier dermaßen beliebt ist oder warum man auf einer Insel mit 50 km Durchmesser überhaupt ein Wohnmobil braucht (angeblich gibt es 10.000 registrierte bewohnbare Fahrzeuge hier). Ich persönlich könnte mir wahrlich Schöneres vorstellen, als Stoßstange an Stoßstange eingekeilt zwischen Hunderten und Aberhunderten anderer Wohnmobile an einem Strand zu stehen, aber ich bin ja auch keine canaria und halte deshalb viel von Privatsphäre und Ruhe. Und von fließend Wasser und Toiletten. Und von regelmäßiger Müllentsorgung. Das ist alles schon auf den offiziellen Campingplätzen vieler Gemeinden hier nur ein schöner Traum, an den vielen Stränden, Buchten oder sonstigen Plätzen, wo zu dieser Zeit wild kreuz und quer geparkt wird, natürlich sowieso kein Thema. Manche Gemeinden - San Bartholomé de Tirajana beispielsweise - unternehmen jedes Jahr wieder halbherzige Versuche, die Wohnwagenflut durch Halteverbote und Strafgebühren etwas einzudämmen, aber ohne nennenswerten Erfolg. Da siegt schlichte Masse und spanische Fiestalaune über behördliche Bemühungen. Es ist schon irgendwie lustig zu beobachten, was die canarios so unter „Reisen“ und „Entspannung“ verstehen. Mich würde es schlicht wahnsinnig machen, wie eine Sardine in einer Blechbüchse eingepfercht vier Tage zu verbringen, gerade mal dreißig oder vierzig Kilometer von zuhause entfernt, umgeben von zahllosen anderen Blechbüchsen und natürlich inmitten eines Geräuschpegels, der dem auf der Start- und Landebahn des aeropuerto hier vermutlich nicht sonderlich nachstehen dürfte. Aber kommunikativ und gesellig wie der canario ist, gibt es für ihn nichts Schöneres, als mit Kind und Kegel, Oma und Familienhund in genau dieser Situation Ostern zu verbringen. Wahrscheinlich am besten noch mit links und rechts denselben Nachbarn, neben denen man daheim auch wohnt.

Seine Insel verlässt der Durchschnitts-canario eigentlich sowieso sehr, sehr ungern und nur, wenn es gar nicht anders geht. Wer im Norden wohnt, macht vorzugsweise im Süden Urlaub und umgekehrt. Das Höchste der Gefühle ist ein Kurztrip auf eine der Nachbarinseln, aber da muss es schon einen ganz besonderen Anlass dafür geben. Flitterwochen auf Fuerteventura zum Beispiel sind bei den Einwohnern von Gran Canaria sehr beliebt. Viele (vor allem die aus dem Norden der Insel, und das sind ja die meisten Einheimischen; im Süden wohnt freiwillig nur, wer in der Touristikbranche arbeitet und deshalb vor Ort sein muss) begnügen sich aber auch nur mit einer Hochzeitsreise in den Süden von Gran Canaria. Eine Freundin von mir, Managerin in einem Fünf-Sterne-Hotel dort, schüttelt insgeheim immer wieder verwundert den Kopf, wenn sie Hochzeitspaare aus Las Palmas oder Arucas begrüßen kann. Ein bisschen sei das doch so, meinte sie kürzlich zu mir, wie wenn man in Kaiserslautern wohnt und in Neustadt an der Weinstraße seine Flitterwochen verbringt. Aber so sind sie halt, die canarios - in ihren Augen kann es ohnehin nichts Besseres geben als ihre Insel, also wozu in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nahe liegt? Ein lieber Freund von uns, Ende Fünfzig, gebürtig und lebenslang wohnhaft hier im Valle de Agaete, war beispielsweise letzten Winter das allererste Mal auf Teneriffa - das wohlgemerkt von Agaete aus mit der Fähre in knapp mehr als einer Stunde auf das Bequemste erreichbar ist. Definitiv ein Once-in-a-lifetime-Abenteuer für ihn (und die ganze Überfahrt über war er zu allem Übel auch noch zum Sterben seekrank, der Arme!). Diese Reise-Unlust kann man nun als Engstirnigkeit und Trägheit, oder schlicht als Ausdruck der Zufriedenheit und Heimatverbundenheit werten, ganz wie man möchte. Auf jeden Fall ist sie aber eines: sehr canario!