Das lässige Inselleben


Dass die Uhren in Spanien anders ticken als in Deutschland, ist eine Binsenweisheit - um das zu wissen, muss man nicht unbedingt gleich nach Gran Canaria auswandern; es reicht schon, wenn man das eine oder andere Mal in Spanien Urlaub gemacht hat. Zwischen dem Zeitgefühl auf der Peninsula und dem, das auf den Kanaren vorherrscht - oder sollte ich lieber schreiben: kultiviert wird? - liegen aber noch einmal Welten. Freilich, auch auf dem spanischen Festland waren wir schon öfter mal erstaunt beäugt worden ob unserer zwanghaften deutschen Pünktlichkeit. "Eso es España" - beruhigend hatte man uns den Arm getätschelt, wenn wir verkehrsbedingt mal eine halbe Stunde zu spät zu einer Verabredung erschienen waren und uns noch im Türrahmen bereits wortreich zu entschuldigen begonnen hatten. "Macht euch mal locker, setzt euch, was wollt ihr trinken?" Niemand schien besonderen Wert auf Pünktlichkeit zu legen, im Gegenteil, gelegentlich hatten wir den Eindruck, Gastgeber mit unserem minutengenauen Eintreffen eher in die Bredouille zu bringen als zu erfreuen. Was diese Deutschen nur immer hatten mit ihren Armbanduhren und Terminkalendern!

Terminvereinbarungen sind hier eher unverbindliche Vorschläge

Dass wir auf Gran Canaria aber noch einiges in dieser Hinsicht dazuzulernen haben würden, schwante uns schon bei unserem ersten Termin. Wir hatten den örtlichen Versicherungsvertreter noch von Deutschland aus kontaktiert, um uns in Spanien privat krankenzuversichern. Die Details waren alle schon per E-Mail vorab geklärt worden, es stand im Prinzip nur noch unsere Unterschrift aus. Da Pedro Versicherungen nur nebenberuflich verkauft, hatte er seinen Besuch bei uns für einen Freitagabend angekündigt, um diese Kleinigkeit aus der Welt zu schaffen. Doch wir warteten vergeblich auf ihn. Als die vereinbarte Uhrzeit um zwei Stunden überschritten war, riefen wir schließlich mit einem unguten Gefühl auf seinem Handy an - überzeugt, ihn mindestens entweder in der Notaufnahme des Krankenhauses oder am Sterbebett seiner Mutter zu stören. Es stellte sich jedoch heraus, dass er bei bester Gesundheit und Laune war und den Termin lediglich vergessen hatte. Besonders zu belasten schien ihn dies nicht - er würde einfach am darauffolgenden Vormittag gegen zehn zu uns kommen, wenn uns das Recht war.

Nun gut, dachten wir, kann ja mal passieren. Dann eben morgen früh. Zehn Uhr an diesem Samstag kam und ging, wer nicht kam, war Pedro. Gegen halb zwölf Uhr riefen wir bei ihm an, erreichten aber nur seine Mailbox. Eigentlich hatten wir an diesem Vormittag noch zum Einkaufen fahren wollen, aber wir wollten diese dumme Versicherungsangelegenheit unbedingt erledigt haben und nicht riskieren, ihn zu verpassen. Als wir schon nicht mehr daran glaubten, klingelte Pedro schließlich vergnügt bei uns - kurz vor ein Uhr. Ja, er habe sich ein bisschen verspätet, sei aufgehalten worden. Aber jetzt sei er ja da und wir auch, wie günstig! Was für ein hübsches Haus wir da hätten, sehr klug von uns, dass wir gleich auch eine Hausratversicherung mit abgeschlossen hätten.

Wir schüttelten die Köpfe, dachten uns aber, dass Pedro halt möglicherweise ein besonders unzuverlässiger oder vielleicht auch nur schlecht organisierter Zeitgenosse war. Eigentlich wenig passende Eigenschaften für einen Versicherungsvertreter, aber gut, er machte das ja auch nur nebenberuflich. Andere würden sicher weniger großzügig mit ihrer und unserer Zeit umgehen als er.

Weit gefehlt! Im Laufe unseres ersten halben Jahres auf Gran Canaria lernten wir rasch zu akzeptieren, dass die meisten Termin- und gar Uhrzeitvereinbarungen hier eher so etwas wie unverbindliche Vorschläge bzw. grobe Richtlinien darzustellen scheinen: Niemand erwartet ernsthaft von einem, sie einzuhalten. So bedeutet zum Beispiel "zehn Uhr" übersetzt ungefähr: "im Laufe des späteren Vormittags"; das Eintreffen der jeweiligen Person kann sich deshalb ohne Weiteres bis halb zwölf oder zwölf verzögern. "Mañana" - morgen - aus dem Mund eines kanarischen Handwerkers erlaubt es einem, zaghaft auf seinen Besuch in der darauffolgenden Woche zu hoffen, stellt aber noch keineswegs eine verbindliche Zusage seinerseits dar, dass er überhaupt jemals auftaucht. Und bescheidet einen ein Vertreter dieses Standes gar mit der Auskunft, er werde sich eines Auftrags bestimmt "nächste Woche" annehmen, dann kann man getrost davon ausgehen, dass er noch nicht einmal daran denkt, die Arbeit innerhalb der nächsten paar Monate einzuplanen.

Vom seltsamen Zeitgefühl spanischer Handwerker

Die Ausreden, die man dann als zunehmend genervt nachfragender Kunde zu hören bekommt, sind ebenso fantasievoll wie dreist. Beliebt sind mysteriöse, nicht näher beschriebene "Notfälle", die einen unmittelbaren Einsatz des betreffenden Fachmannes anderenorts unabdingbar machen und von denen sich im Zweifel etliche aneinanderreihen können. Auch unaufschiebbare familiäre Verpflichtungen werden gerne vorgeschützt, ebenso wie ein mit erschöpftem Augenrollen illustriertes "mucho trabacho, mucho trabacho!", das dem lästigen Kunden verdeutlichen soll, dass halb Gran Canaria gleichzeitig händeringend um den Beistand des betreffenden Handwerkers nachgesucht hat und man sich deshalb gedulden muss. Den Vogel abgeschossen in Sachen Ausreden hat aber Juan, eine Art Allround-Handwerker in der Siedlung, in der wir leben. Unsere Nachbarin, eine Finnin, die nur zum Überwintern nach Gran Canaria kommt, hatte ihn während ihres letzten Aufenthalts damit beauftragt, im Laufe der Sommermonate, die sie in Finnland verbringen würde, einen tubo in ihrem Haus zu erneuern. Juan hatte ihr das auch für die Woche nach ihrer Abreise zugesichert und angekündigt, sich den bei uns hinterlegten Haustürschlüssel zu holen.

Die Wochen gingen ins Land, ohne dass Juan erschien. Gelegentlich trafen wir ihn bei unseren Wegen durch die urbanización und fragten dann immer einmal nach, kamen aber über "mucho trabajo" und "nächste Woche" nicht hinaus. Schließlich waren es nur noch wenige Wochen, bis unsere Nachbarin wiederkehren würde, und wir ergriffen die nächste Gelegenheit, um Juan mit dem Rücken zur Wand einzukesseln, entschlossen, ihn nicht ohne eine verbindliche Zusage für die versprochene Reparatur bei ihr wieder entkommen zu lassen. So in die Enge gedrängt, blickte uns Juan fest in die Augen und erklärte ohne mit der Wimper zu zucken: "Für so eine Arbeit muss das Wetter gut sein!" - Wir schauten zum stahlblauen kanarischen Himmel auf, von dem seit vielen, vielen Wochen eine strahlend-heiße Sommersonne praktisch ununterbrochen herunterlachte und wussten darauf nichts mehr zu erwidern. Tröstend klopfte Juan uns auf die Schulter und versprach,  sich des Problems "la semana que viene" ganz bestimmt anzunehmen ...

Nun mag manch einer einwenden, dass Handwerker auf der ganzen Welt eine besonders schwierige Spezies sind und dass auch deutsche Handwerker schon manch einen Kunden mit ihrer Unzuverlässigkeit und Schlamperei in den Wahnsinn getrieben haben. Aber auch jenseits von Hammer und Pinsel herrscht auf den Kanaren eine Lässigkeit im Umgang mit eigener und fremder Zeit, die man als Deutscher nur mit offenem Mund bestaunen kann. Gelegentlich regt sie uns auf, öfter jedoch bewundern und beneiden wir dieses Völkchen darum, sich dem Diktat der Uhr so beharrlich zu widersetzen. Ich kenne jetzt keine gesicherten Zahlen aus dem Gesundheitswesen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Diagnosen wie Magengeschwüre, Bluthochdruck oder gar Burnout in der hiesigen Bevölkerung auch nur annähernd verbreitet sind wie in der deutschen. Dazu ist das Lebenstempo im allgemeinen zu gering und die Gelassenheit, mit der auf Verzögerungen und Wartezeiten reagiert wird, zu groß.

Reisen statt rasen

Da wäre zum Beispiel das Thema Autofahren. Sowohl auf dem spanischen Festland als auch in Frankreich oder Italien hatten wir die Einheimischen häufig als schnelle, rücksichtslose und risikofreudige Autofahrer kennengelernt. (Wer jemals einen echten Adrenalinkick braucht, sollte es auf jeden Fall mal mit einem Madrider oder Pariser Taxifahrer versuchen - Bungeejumping stelle ich mir höchstens halb so aufregend vor!) Auch in dieser Hinsicht ticken die Canarios aber ganz anders als die Festlandspanier. Auf Autobahnen gilt praktisch überall die Höchstgeschwindigkeit 120 km/h oder darunter - sehr viele Abschnitte darf man auch nur mit 80 km/h befahren. Und das Erstaunliche: Die Canarios halten sich überwiegend daran! Selbst auf bolzengeraden Stücken, bei denen sich dem gesunden Menschenverstand nicht unbedingt sofort erschließt, warum man hier nicht schneller als 100 fahren darf. Selbst da, wo keine guardia civil mit Radargeräten am Straßenrand lauert. Man hat ja schließlich Zeit!

Ähnlich artig geht man hier mit Zebrastreifen um. Während man in Deutschland in aller Regel den Eindruck hat, Zebrastreifen seien nichts anderes als ein unverbindlicher Vorschlag der Straßenbehörde zum gelegentlichen Anhalten, den die meisten Autofahrer geflissentlich ignorieren, kann man hier blindlings über die Straße laufen, wenn ein Zebrastreifen vorhanden ist, ohne überhaupt nach rechts und links zu schauen. In unserer ganzen Zeit hier habe ich es noch nicht ein einziges Mal erlebt, dass ein Auto an einem Zebrastreifen nicht angehalten hätte - im Gegenteil: so manches Mal bremsen die Autos in vorauseilendem Gehorsam schon dann, wenn man als Fußgänger noch zwei Meter vom Zebrastreifen entfernt ist, so dass man sich dann bemüßigt fühlt, den Schritt zu beschleunigen, um den freundlichen Fahrer nicht unnötig lange warten zu lassen. Oder auch mal eine Straße zu überqueren, obwohl man das eigentlich ursprünglich gar nicht vorhatte, damit der Fahrer nicht umsonst angehalten hat.

Letzteres wäre aber wahrscheinlich gar kein Drama - die Canarios halten ohnehin gerne an beim Autofahren. Vor allem, um ein Schwätzchen zu machen. Gerne auch mitten auf der Straße im Ort, wenn es sich so ergibt. In unserem Ort sind die meisten Straßen sehr eng, so eng, dass zwei Autos nur dann aneinander vorbeikommen, wenn am Rand keine Autos geparkt sind. Oder sie sind von vornherein als Einbahnstraßen angelegt. Jedenfalls kann man in ihnen nie schneller fahren als der Vordermann - überholen ist einfach nicht drin. Das hindert aber die Canarios nicht, sehr gemütlich durch den Ort zu fahren, meist wenig schneller als im Schritttempo. (Ich muss dann immer daran denken, dass ich bei meinem ersten Versuch damals in Deutschland deshalb durch den Führerschein gerasselt bin, weil ich - nervös wie ein Regenwurm im Ameisenhaufen - auf einer Straße mit Tempolimit 50 einige Minuten lang nur mit 35 km/h unterwegs war und der Fahrprüfer das als unzumutbare Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer einstufte!)

Wahrscheinlich ist das langsame Tempo aber auch besser, denn die wenigste Zeit während der Fahrt ist der Blick des kanarischen Autofahrers dabei auf die Straße selbst gerichtet. Stattdessen schweift er rechts und links über die Bürgersteige und Hausfassaden, immer auf der Suche nach einem bekannten Gesicht. (Nun zählt unser Ort nicht ganz 6000 Einwohner, da ist es in aller Regel nur eine Frage der Zeit, bis ein solches auftaucht, das Ganze funktioniert aber offensichtlich auch in größeren Orten nicht anders.) Je nach Bekanntheits- oder Verwandtschaftsgrad muss dann gebremst und der Betreffende unbedingt angehupt und durch ein freundliches Winken gegrüßt werden. Handelt es sich um jemand Näherstehenden oder jemanden, den man länger nicht gesehen hat, wird angehalten, der Betreffende kommt auf die Straße zum Auto gelaufen, durch das - ohnehin immer offene - Fenster werden Hände geschüttelt, Küsschen verteilt und der neueste Klatsch und Tratsch ausgetauscht. Je nach Situation kann das schon mal zwei, drei Minuten dauern. In der Zwischenzeit staut sich hinter einem der Ortsdurchgangsverkehr - ein, zwei, drei oder mehr Autos warten geduldig, bis der Vordermann mit seinem Schwätzle fertig wird und sich bequemt, weiterzufahren. Niemand hupt, niemand schimpft. Schließlich könnte man selbst der nächste sein, der einen Bekannten am Straßenrand entdeckt, und dann wird man es ja nicht anders handhaben. Man stelle sich eine vergleichbare Situation bitte mal für einen Moment in Deutschland vor! Klappt einfach nicht, oder? Von dem dort entstehenden Hupkonzert würden einem wahrscheinlich die Trommelfelle platzen. Hier nicht. Es geht nicht ums Ankommen, schon gar nicht in einer bestimmten Zeit, so viel ist offensichtlich.

Kommunikation im Supermarkt

Ebenfalls faszinierend finde ich die Entspanntheit, mit der Canarios einkaufen gehen. Insgeheim hege ich nach einem halben Jahr Beobachtung den Verdacht, dass die Kommunikationslücke, die Deutsche (vor allem deutsche Rentner!) bevorzugt im Gespräch mit ihrem Hausarzt schließen (dem sie dann ungeachtet eines überquellenden Wartezimmers in allen Einzelheiten die Geburtstagsfeier ihrer Cousine in der vergangenen Woche schildern), von den Canarios eher an den Kassen der Supermärkte oder anderen Geschäfte gefüllt wird. Muffelig dreinschauende Kassiererinnen, die wortlos ein Produkt nach dem anderen über den Scanner ziehen und am Ende ungehalten die zu zahlende Summe hervorblaffen, gibt es hier aber auch so gut wie nie. Stattdessen findet während des Kassiervorgangs ein angeregtes Gespräch über dies und jenes statt (das selbigen natürlich dramatisch verlangsamt, da häufig beide Hände der Kassiererin mehr mit Gestikulieren als mit Scannen beschäftigt sind). Die Einkäufe werden kommentiert, die Tagesnachrichten besprochen und der neueste Klatsch und Tratsch ausgetauscht.

Die wartende Schlange vollgestopfter Einkaufswagen verlängert sich währenddessen gefährlich weit in den Verkaufsraum hinein, was aber weder den Kunden noch die Kassiererin zu beunruhigen scheint. In aller Ruhe wird der Bezahlvorgang abgeschlossen, dann aus gegebenem Anlass noch die Vor- und Nachteile der vielerorts erst kürzlich eingeführten Bezahl-Plastiktüten diskutiert. Und dann ganz gemächlich eingepackt, verabschiedet und die Schlange rückt einen Wagen vor. Und das Ganze beginnt von vorne. Auch hier regt sich niemand auf, niemand tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen oder verlangt empört danach, dass weitere Kassen aufgemacht werden. Was für ein Unterschied zu Deutschland - wenn bei Aldi mehr als drei Leute an der Kasse warten, findet sich bestimmt jemand, der hektisch auf den Klingelknopf drückt, bis die freundliche Lautsprecherstimme verkündet: "Vielen Dank für Ihren Hinweis. Wir öffnen Kasse 3 für Sie." Sofort stürzt jedermann in der Hoffnung auf eine eingesparte Minute auf diese zu. Wieso eigentlich? Was machen wir Deutschen eigentlich mit den ganzen eingesparten Minuten?

Wenn man bereits sechs Monate gewartet hat, warum kann man dann nicht weitere sechs Monate warten?

Ich muss gestehen, dass ich mich - über vierzig Jahre lang deutschen Werten, deutscher Pünktlichkeit und deutscher Eile unterworfen - auch nach einem halben Jahr ab und zu noch beim Füßescharren in solchen Situationen ertappe. Aber immer seltener. Wenn es mich ausnahmsweise mal wieder aufregt, dass hier alles so viel langsamer geht, dann schlage ich George Sands' Buch "Ein Winter auf Mallorca" auf. An einer Stelle beschreibt sie darin ihre Schwierigkeiten, eine Einrichtung für das von ihr gemietete Haus zu erwerben: "Irgendwie hat es der Mallorquiner niemals eilig. Das Leben ist so lang! Man muss schon Franzose, das heißt extravagant sein, um zu verlangen, dass etwas sofort gemacht wird. Und wenn man bereits sechs Monate gewartet hat, warum kann man dann nicht weitere sechs Monate warten? ,Ihnen gefällt unser Land nicht? Warum bleiben Sie dann hier? Wir kommen auch ohne Sie aus. Sie glauben wohl, dass Sie bei uns alles auf den Kopf stellen können? Oh, keineswegs! Schauen Sie, wir lassen die Leute reden, und wir tun, was uns passt.‘ - ,Gibt es denn nichts zu mieten?‘ - ,Zu mieten? Meinen Sie Möbel mieten? Als gäbe es so viel, dass man noch welche vermieten könnte.‘ - ,Gibt es denn keine zu kaufen?‘ - ,Zu kaufen? Dafür brauchte man fertige Möbel. Als hätten wir überschüssige Zeit, um Möbel zu bauen, die niemand bestellt hat. Wenn Sie welche haben wollen, lassen Sie die doch aus Frankreich kommen. Da gibt‘s doch alles.‘ - ,Das dauert mindestens sechs Monate und kostet Zoll. Wenn man also so töricht gewesen ist, hierher zu kommen, kehrt man wohl am besten gleich wieder um?‘ - ,Dazu kann ich Ihnen nur raten. Oder haben Sie Geduld, viel Geduld; mucha calma, sagen wir in Mallorca.“

George Sands schrieb dieses Buch über ihre Reise mit Frédéric Chopin auf die spanische Insel im Jahr 1838, geändert hat sich in 200 Jahren in dieser Hinsicht nichts. Ich sollte also wohl besser gar nicht erst versuchen, Gran Canaria mein (deutsches) Tempo aufzwingen zu wollen. Die meiste Zeit über kann ich auch wirklich schon recht gut mit der kanarischen Lässigkeit umgehen, ich stelle auch immer häufiger fest, dass sie extrem ansteckend ist. Längst nicht mehr bemühe ich mich, Verabredungen auf die Minute genau einzuhalten, schon gar nicht im privaten Bereich. Die Sache mit der mañana-Mentalität hat mich auch schon stärker infiziert als ich je für möglich gehalten hätte: Von Haus aus eher Perfektionistin als Prokrastiniererin, habe ich früher nach dem Wahlspruch gelebt: "Was du heute kannst besorgen, hättest du eigentlich besser gestern schon erledigt gehabt." Ziemlich stressintensiv, wie man sich leicht vorstellen kann. Das ist aber eine Einstellung, die sich hier schlecht durchhalten lässt, wenn alle um einen herum ein so gemächliches Tempo pflegen. Ohne, dass ich das bewusst angestrebt hätte, verändert mich das mit jedem Monat, den wir auf der Insel leben, mehr.

Manchmal ist mir mein neues, kanarisches Ich geradezu unangenehm - meine inneren Antreiber spucken Gift und Galle und sind empört darüber, dass beispielsweise das Projekt "Schlafzimmer neu streichen" von mir von Woche zu Woche mit immer neuen Entschuldigungen und Begründungen vertagt wird. (Und das, obwohl die Salpeterbehandlung der einen Wand dort unschöne Spuren hinterlassen hat.) Aber die Sonne scheint, das Meer ist blau, die Luft ist warm und samtig, und irgendwie zieht die Schwerkraft hier stärker an mir als sie das in Deutschland getan hat. Ich fühle mich in gewisser Weise zwangsentschleunigt. Selbst, wenn ich es versuche, kriege ich hier nicht so viel so schnell auf die Reihe wie in Deutschland - es passt einfach weniger in einen Tag. Alles dauert länger als geplant. Oft genug verzögern sich die Dinge durch äußere Einflüsse, nicht selten aber auch dadurch, dass sich meine eigene Gangart geändert hat. Ich bin langsamer geworden, und ja, auch lässiger. Auch nach-lässiger in mancher Hinsicht. Meistens gefällt mir das, manchmal beunruhigt es mich, auf jeden Fall scheint es mir in vieler Hinsicht gut zu tun. Ich schlafe mehr und tiefer als in Deutschland, manchmal verlangt es mich sogar nach einem Mittagsschlaf (ein Luxus, den ich mir zuhause praktisch nie gegönnt habe). Ich bin viel gesünder und sammle nicht mehr jeden Infekt ein, der des Weges kommt. Ich fühle mich entspannter, freier, weniger unter Druck als in Deutschland. Das mag viele Gründe haben, einer ist aber ganz sicher die kanarische Lässigkeit, die auf mich abgefärbt hat. Morgen ist auch noch ein Tag - und falls nicht, dann hat es schon doppelt keinen Sinn, sich heute noch abzuhetzen. ¡Ante todo mucha calma! Eine ganze Menge Probleme lösen sich sowieso von alleine, wenn man sie nur nicht dabei stört! Ich glaube nicht, dass sich diese Erkenntnis in Deutschland bei mir je so gut hätte durchsetzen können.