Ich rede, also bin ich


se-habla-espanol
Ich hätte wahrscheinlich weniger lange mit dem Auswandern gezögert, wenn ich mehr Vertrauen in meine spanischen Sprachkenntnisse gehabt hätte. Mit Anfang Zwanzig hatte ich einmal ein Jahr lang recht intensiv Spanisch gelernt, es allerdings dann nie wieder gebraucht (außer vielleicht, um den einmal jährlich fälligen Sommerhit aus Spanien oder Südamerika mitgrölen zu können). Nachdem ich dann einen Halbspanier geheiratet hatte, hörte ich sogar damit auf - ich gehöre unglücklicherweise zu der Sorte Mensch, die lieber stumm wie ein Fisch in einer Ecke sitzt, als einen Aussprache- oder Grammatikfehler in Hörweite von jemandem zu riskieren, der es besser wissen könnte (jaja, danke, als Therapeutin weiß ich ganz gut, was das über meine ganz private Persönlichkeitsstörung aussagt, aber das ändert leider gar nichts an den Tatsachen). Gewohnt, in Deutschland eher der kommunikativere und sozial aufgeschlossenere Part von uns beiden zu sein, zog ich mich während Spanienurlauben deshalb jahrelang bequem in den Windschatten meines Mannes zurück. Will heißen: ich beschränkte mich darauf, polyglott zu gucken und ihm die Wortführung zu überlassen. Wer nichts sagt, sagt auch nichts Falsches, war meine Devise.

Playa del Inglés - in etwa so spanisch wie Fuhlsbüttel

Dass sich das auf Gran Canaria natürlich früher oder später ändern musste, war mir durchaus klar, wenn ich nicht alsbald in eine Einsamkeitsdepression verfallen wollte. Mit der Entscheidung für den Norden der Insel als Wohnort hatten wir uns nämlich gründlich die Möglichkeit verbaut, es uns in deutschen Enklaven wie Playa del Inglés oder Maspalomas gemütlich zu machen. Dort kommt man problemlos völlig ohne Spanischkenntnisse durchs Leben - jedermann spricht wenigstens ein paar Brocken Deutsch oder Englisch. Jede Speisekarte ist zumindest dreisprachig (wenn man sich auch angesichts der oft haarsträubenden Rechtschreibung fragt, warum um Himmels Willen die padrónes eigentlich nicht einfach einen der zahllosen Deutschen vor Ort gegen ein Freibier um einmal Korrekturlesen bitten).

Es gibt deutsche Ärzte, deutsche Krankenhäuser, deutsche Friseure und deutsche Metzger. Man bekommt Schweinshaxen mit Sauerkraut, Laugenbrezeln, Tchibo-Kaffee und „original badischen Kartoffelsalat“ ebenso an jeder Straßenecke wie Currywurst und Vollkornbrötchen. Sämtliche deutschen Fernsehsender sind astrein zu empfangen, die Kioske führen neben der lebensnotwendigen „BILD“-Zeitung auch noch jede Menge anderer deutscher Printerzeugnisse. Als vor einigen Wochen die Rundfunklizenzen auf der Insel neu vergeben wurden und zu den dabei nicht berücksichtigen Sendern auch alle vier deutschen Urlaubsradios gehörten, brach ein Sturm der Entrüstung los. (Das winzige Detail, dass diese Sender bisher ganz ohne Sendegenehmigung - also faktisch illegal - on Air gewesen waren, ließen die Protestler dabei geflissentlich außer Acht; lieber wurde aufgeregt über den „Rassismus“ der canarios geschimpft.) Ein ganzes Stadtviertel von Maspalomas heißt „Sonnenland“ - keineswegs ein Spitzname unter Touristen, sondern die offizielle Bezeichnung, die auch so auf Straßenschildern zu finden ist. Betritt man einen Supermarkt oder eine Bar, hört man dort kaum je Spanisch, sondern überwiegend Deutsch, allenfalls noch einmal Englisch oder einige Worte aus einer skandinavischen Sprache.

Als ich kürzlich in einem Café in der Avenida de Tirajana in Playa del Inglés saß und auf meinen Mann wartete, hörte ich eine Unterhaltung zwischen dem deutschen Besitzer und einigen (ebenfalls deutschen) Gästen mit: „Also, weißt du, ich wechsel‘ jetzt die Firma, die meine Alarmanlage macht.“ - „Wieso, warst du nicht zufrieden mit denen, die‘s bisher gemacht haben?“ - „Doch, doch, aber die haben jetzt so Sparmaßnahmen eingeleitet und Teile von ihrem Personal entlassen und betreuen ihre Kunden nur noch auf Spanisch und Englisch. Die haben gar keinen mehr da, der Deutsch kann. Wie soll denn das gehen? Da müsste ich ja Spanisch sprechen, dazu hab ich keinen Bock.“ Ich hätte mich beinahe an meinem Kaffee verschluckt - Capuccino übrigens, ganz urdeutsch mit Sahne und Kakaopulver obenauf. Bekommt man da hingestellt, wenn man einen cortado bestellt (was in Spanien eigentlich die Bezeichnung für einen Espresso mit einem Schuss Milch ist). Da saß also der (übrigens keineswegs neue) Café-Besitzer auf Gran Canaria und empörte sich, weil die Geschäftsleute in Spanien Spanischkenntnisse von ihm erwarteten. Frechheit aber auch! Schon wieder Rassismus pur! Ob er das umgekehrt genauso gesehen hätte - wenn ein türkischer Geschäftsinhaber von ihm in Deutschland ganz selbstverständlich Türkischkenntnisse erwartet hätte?

Und was wohl ein canario denkt, wenn er in dieser Region der Insel unterwegs ist? Außer Frage steht, dass deutsche Urlauber und Residenten dort das Szepter übernommen haben und canarios lediglich noch als folkloristische Kuriosität am Rande geduldet werden. Angesichts der Abhängigkeit Gran Canarias vom Tourismus und der immens hohen Arbeitslosenquote auf der Insel (aktuell etwa 30 %, in den jüngeren Schichten teilweise bis zu 50 %) ein Umstand, der von den Einheimischen zähneknirschend in Kauf genommen werden muss. Wahrscheinlich fühlt sich ein Spanier in Playa del Inglés aber mittlerweile selbst eher wie im Ausland als zuhause!

Aber, wie schon gesagt, einen Vorteil hat die Sache für deutsche Residenten tatsächlich: sie brauchen sich den Kopf nicht über das Sprachenlernen zu zerbrechen, wenn sie keine Lust dazu haben. Im Norden der Insel, wo wir leben, sieht das ganz anders aus: Hier spricht kaum jemand außerhalb der „Tourist-Info“-Büros deutsch oder englisch (und selbst dort oft nicht besonders gut). Speisekarten mit deutscher oder englischer Übersetzung finden sich zwar in vielen Lokalen, aber das war‘s dann auch schon mit der Internationalität. Entweder, man kann sich hier auf Spanisch verständigen, oder man muss auf Hände und Füße zurückgreifen, aber diese Methode stößt ja jenseits der ganz basalen Alltagsnotwendigkeiten oft rasch an ihre Grenzen. Also marschierte ich im Jahr vor unserer Übersiedlung nach Gran Canaria schon mal fleißig in die Volkshochschule unseres Ortes, um  mit Hilfe einer netten Peruanerin dort meine Spanischkenntnisse etwas abzustauben, und mein Mann stellte einen iMac in unserer Küche auf, auf dem fortan während der Essenszubereitung und -vertilgung spanische Fernsehsender vor sich hin brabbelten. Zur Krönung besorgten wir uns noch ein paar DVDs mit spanischen Filmen wie „Tesis“ oder „Volver“ und ich war ganz stolz auf mich, wenn ich der Handlung halbwegs folgen konnte. Es würde schon irgendwie funktionieren, dachte ich.

Bedauerlicherweise hatte ich nicht ins Kalkül gezogen, dass man im echten Leben auch auf Wunsch keine spanischen Untertitel eingeblendet bekommt (was mir bei Filmen oft ungemein hilft, da mein Leseverständnis bei weitem meinem Hörverständnis voraus ist). Spanier sind versierte Schnellsprecher und außerdem höchst ökonomisch in allem, was sie tun - minimaler Aufwand für maximale Wirkung, ist ihre Devise. Will heißen: Pausen zwischen einzelnen Wörtern oder Sätzen werden nach Möglichkeit vermieden, denn sie würden nur unnötig Zeit kosten und dem Gegenüber außerdem - Gott behüte! - die Gelegenheit bieten, selbst das Wort zu ergreifen. Da sämtliche Spanier, die ich bisher kennengelernt habe, sehr viel lieber selbst sprechen, als anderen zuzuhören, wäre ihnen das natürlich ausgesprochen unwillkommen. Für den ungeübten ausländischen Zuhörer, der in dem Lautewust, der ihm da entgegenschwappt, verzweifelt nach einzelnen, ihm bekannten Vokabeln fahndet, um den Gesamtzusammenhang des Ganzen wenigstens annähernd zu entschlüsseln, absolut mörderisch! Oft genug passiert es mir auch nach einem Dreivierteljahr hier noch, dass ein Satz, den ich sehr wohl sofort verstünde, würde ich ihn geschrieben sehen, mir absolut rätselhaft bleibt.

Canario ist nicht immer gleich Castellano

Das hat natürlich auch mit dem hiesigen Dialekt zu tun. In Sprachschulen lernt man sauberes Hochspanisch, das mit dem umgangssprachlichen Spanisch mancherorts nur noch rudimentär zu tun hat. Der kanarische Dialekt ist zwar für Ausländer nicht so schwer verständlich wie man es beispielsweise dem andalusischen nachsagt, zumindest für mich aber trotzdem eine echt harte Nuss. Am meisten zu schaffen macht mir dabei die tief verwurzelte Abneigung der canarios gegen jedes „s“ an einem Wortende. Das wird unbarmherzig einfach verschluckt, ebenso jedes „s“, das sich unvorsichtigerweise innerhalb eines Worts vor einem Konsonanten postiert hat. Ersatzweise wird ein „h“ an diese Stelle gehaucht, das da eigentlich gar nichts zu suchen hat und mich oft genug in grenzenlose Verwirrung stürzt. Statt gracias sagt man hier graciah, statt buenos días buenoh día. Aus las moscas (die Fliegen) werden gesprochen lah mohcah, und wenn man dann noch die Zusammenziehungen von einzelnen Wörtern mit hinzunimmt, wird es ganz unübersichtlich: los ojos de las moscas (die Augen der Fliege, die ein Madrilene hübsch ordentlich los ochos de las moscas aussprechen würde), werden plötzlich zu losojohdelahmohcah. Während ich noch händeringend in meinem Wortschatz wühle, auf der Suche nach dieser mysteriösen Vokabel, ist der Sprecher natürlich längst beim übernächsten Satz angelangt und ich habe den Faden soweit verloren, dass ich nicht mal mehr aus dem Kontext ungefähr erraten kann, worum es eigentlich geht. Bleibt mir nur, blöde grinsend freundlich zu nicken und hoffen, dass ich nicht gerade eine aufblasbare Waschmaschine käuflich erworben habe, ohne es zu merken!

Unnötig herumgequält habe ich mich im Spanischunterricht auch mit der Aussprache des „c“. Während es im Hochspanischen ähnlich klingt wie das „th“ im Englischen - merecer (verdienen) hört sich dort an wie merether - wird es hier einfach wie ein „s“ ausgesprochen. Wahrscheinlich, um einen gerechten Ausgleich für die ganzen anderen armen Endungs-s zu schaffen, die andernorts gnadenlos verschluckt werden! Hätte ich es gleich so lernen können, wäre mir mancher Zungenknoten beim Üben erspart geblieben - so aber verfremdet der unerwartete s-Laut in meinen Ohren mir manches eigentlich vertraute Wort, das ich problemlos wiedererkenne, kommt es beispielsweise von den Lippen des derzeitigen spanischen Ministerpräsidenten Zapatero (der überhaupt ein für Ausländer sehr gut verständliches, sauber akzentuiertes Hochspanisch spricht, wie ich finde).

Schon fast nicht mehr ins Gewicht fallen in der generellen Misere meines Hörverständnisses Petitessen wie die Tatsache, dass die canarios offenbar neben ihrer s-Abneigung auch ein tief verwurzeltes Misstrauen gegen das Wort vosotros (euch) hegen. Das ist insofern irritierend, da sich seit dem Fall des Franco-Regimes hier wie auch in ganz Spanien die Du-Anrede als die allgemein übliche durchgesetzt hat (mit wenigen Ausnahmen, wie beispielsweise gegenüber sehr alten Leuten oder hohen Würdenträgern, wo das „Sie“ noch als Zeichen besonderen Respekts verwendet wird). Jedermann duzt also dauernd jedermann - logisch wäre im Plural deshalb ein vosotros, aber das Wort mögen die canarios offenbar nicht und ersetzen es deshalb flugs durch ustedes (was eigentlich der Plural von usted, also „Sie“ in der Mehrzahlanrede ist). Mehr als einmal hat es mich anfangs ziemlich aus dem Konzept gebracht, wenn Bekannte, mit denen wir auf freundschaftlichem Fuß verkehrten, uns gegenüber plötzlich zum in meinen Ohren hoch förmlichen ustedes wechselten und gleich darauf wieder zurück zum vertrauten . So was erklärt einem ja auch keiner in einem Sprachkurs!

Vor allem dann, wenn sehr alte Leute aus unserem Ort Anstalten machen, mich anzusprechen, verstecke ich mich auch nach mehreren Monaten Übung erschreckt hinter meinem Mann. Man kennt das ja auch aus dem eigenen Land, dass bei alten Menschen örtliche Dialekte oft ausgeprägter sind als bei jungen, und wenn dann noch schlecht sitzende dritte Zähne hinzukommen, die die Aussprache zusätzlich verwischen, kann es auch in der Muttersprache schon eine Herausforderung werden, sie zu verstehen. Hier auf Gran Canaria potenziert sich die ganze Sache noch dadurch, dass bei uns im Tal - so klein es auch ist! - verschiedene Dialekte gesprochen werden und sich jemand aus dem Dörfchen San Pedro völlig anders anhören kann als jemand aus dem nur vier Kilometer entfernten Agaete. Wie uns erzählt wurde, blieben die Einwohner der einzelnen Siedlungen hier lange Zeit auch lieber unter sich und eine Reise von San Pedro nach Agaete hinunter galt noch bis vor wenigen Jahrzehnten vielen als größere Unternehmung (unter anderem auch wegen der schlechten Straßenverhältnisse). Noch heute verbindet man hier die Zusage zu einer Einladung in das Haus von im Nachbardorf lebenden Freunden und Bekannten gern mit dem Nachsatz: "... wenn der Esel nicht krank wird!" - auch wenn die Transportmittel natürlich mittlerweile andere geworden sind.

Dieser (freiwillige und unfreiwillige) Hang zum Enklaventum ist ein Grund dafür, dass der Dialekt in unserem Tal selbst für waschechte canarios aus anderen Regionen der Insel manchmal schwer zu verstehen ist. Zusätzlich macht mir aber auch noch eine Besonderheit des spanischen Gesundheitssystems die Sache schwerer: In der Seguridad Social (dem Äquivalent zur deutschen Gesetzlichen Krankenversicherung) sind zwar alle möglichen ärztlichen Leistungen enthalten - an zahnärztlichen Leistungen aber deckt die Kasse nur eins ab: Zähne ziehen! Alles andere, von der Füllung bis zum Implantat, muss der Patient aus eigener Tasche bezahlen. Bei niedrigen Löhnen für viele ein Problem. Und so kommt es denn, dass nicht wenige der alten Herrschaften hier mehr Lücken als Zähne in ihrem Gebiss haben - was ihre Aussprache für meine deutschen Anfängerohren nicht gerade deutlicher werden lässt ... Da bleibt wieder nur: freundlich lächeln und nicken, auch wenn man kein Wort verstanden hat! Meistens komme ich damit auch durch.

Kanarische Kuschelmentalität

Richtig süß, wenngleich etwas gewöhnungsbedürftig für einen erwachsenen Menschen, finde ich die Neigung der canarios, sich ständig untereinander mit mi niño (mein Kleiner) bzw. mi niña (meine Kleine) anzusprechen. Das tun flüchtige Bekannte hier miteinander ebenso unbefangen wie Großmutter und Enkel, und es kann einem durchaus auch beim dritten Einkauf in Folge an der Wursttheke passieren, dass die freundliche Dame hinter dem Tresen einen fragt: ¿Qué te pongo, mi niña? - „Was soll‘s denn sein, meine Kleine?“ Ein sehr seltsames Gefühl für eine Mittvierzigerin wie mich - ich spüre da sofort den Drang in mir, an meinen nicht mehr vorhandenen Zöpfen zu spielen und auf ein Wurstscheibchen extra zum Knabbern zu hoffen. Aber offenbar kennt diese liebevolle Anrede keinerlei Altersgrenze; oft genug schon musste ich, seit wir hier sind, in mich hinein lächeln, wenn sich in meiner Hörweite Menschen weit jenseits der Pensionsgrenze mit: ¿Qué tal, mi niño? - „Wie geht‘s, mein Kleiner?“ begrüßten.

Mittlerweile irritiert es mich auch nicht mehr, wenn mir eine Verkäuferin, die ich noch nie vorher gesehen habe, mir meine Einkäufe mit einem liebenswürdigen ¡Aquí tienes, cielo! über den Tresen reicht. In Deutschland hätte ich mich doch sehr gewundert, von einer Wildfremden als „mein Schatz“ tituliert zu werden - hier ist das nichts Besonderes und einfach Zeichen freundlicher Zuwendung und Wertschätzung. Auch die Bezeichnung cariño / cariña (Liebes) wird recht inflationär und durchaus auch mal gern vom Kassen- oder Verkaufspersonal gegenüber der Kundschaft gebraucht. Man ist halt nett zueinander!

Dazu gehört auch, dass die reguläre Begrüßung aus einem Küsschen rechts und einem Küsschen links besteht. Und zwar abhängig von der Situation, in der man jemanden neu kennenlernt, durchaus schon ab dem Erstkontakt. Das kann dazu führen, dass man sich - wird man beispielsweise in einer größeren Runde von Freunden neu vorgestellt - erst einmal durch fünfzehn Leute hindurchküssen muss, deren Namen man zum ersten Mal hört (und die man sich auch nie im Leben alle auf einmal wird merken können). Aber auch bei geschäftlichen Kontakten ist ein distanziertes Händeschütteln höchstens bei der ersten Begegnung angebracht. Hat man die Leute zuvor schon einmal getroffen, wechselt man auch in diesem Rahmen rasch zu Küsschen-Küsschen über.

Ich stamme ja nun aus dem Süden Deutschlands und bin deshalb sicher nicht nordisch-kühl oder steif, aber selbst für mich war es erst einmal befremdlich, als unser Installateur mich, als ich ihm zu seinem dritten Einsatz bei uns die Tür öffnete, erst einmal herzlich an sich zog. Auch, als wir die Bedienung aus unserer Stammkneipe einmal zufällig bei IKEA trafen, gab es zur Begrüßung gleich mal zwei Küsschen. Als Frau wird man hier sowieso dauernd geküsst, ob man nun will oder nicht; von Frauen ebenso wie von Männern. Treffen zwei Männer aufeinander, können sie es - je nach Verwandtschafts- oder Bekanntschaftsgrad - auch mal bei Händeschütteln und leutseligem Schulterklopfen bewenden lassen, aber als Frau würde man sich mit so einem Verhalten in fast jedem Kontext unwiderruflich als verkniffene Unsympathin outen. Geküsst werden muss also unbedingt, und man gewöhnt sich besser gleich daran!

Ich rede, also bin ich!

Gewöhnungsbedürftig für deutsche Ohren ist hier übrigens auch die Lautstärke, in der kommuniziert wird. Kommt man als Unbeteiligter in einen Raum voller canarios, die sich unterhalten - beispielsweise ein Restaurant oder einen Raum, in dem eine Familienfeier stattfindet -, prallt man erst einmal entsetzt zurück und zieht vorsichtshalber noch den Kopf ein. Gleich werden bestimmt Flaschen und Fäuste fliegen - offenbar ist man mitten in eine wüste Auseinandersetzung über ein hoch emotionales Thema geraten! Hoffentlich gibt es keine Verletzten! Es bedarf einiger Zeit, bis man als Nicht-Spanier begreift, dass hier nichts weiter im Gange ist, als eine ganz normale spanische Unterhaltung über das Wetter, tía Pilis neuen Liebhaber oder abuelas Rezept für sardinas a la plancha. Es wird nicht gestritten, es sind keine Handgreiflichkeiten zu befürchten. Man redet einfach nur miteinander - nur eben laut. Sehr laut. Wäre Descartes nicht Franzose, sondern Spanier gewesen, hätte er wahrscheinlich statt "Ich denke, also bin ich!" gesagt: "Ich rede, also bin ich!" Zum Denken kommt man in so einer Situation ohnehin nur schwer - es ist einfach zu laut dafür. Für die meisten Spanier ist Reden ihr natürlicher Betriebszustand; Schweigen fällt ihnen ungeheuer schwer. Es spielt keine Rolle, worüber geredet wird, meist ist es auch ganz Belangloses oder Offensichtliches, was da ausgesprochen wird - es geht um das Reden an sich, das In-Kontakt-Sein mit anderen, das zählt.

Dass alle lieber reden als zuhören, bringt natürlich - vor allem in größeren Runden - ein Problem mit sich: Wie selbst zu Wort kommen? Die Lösung ist einfach und lautet: dazwischenreden! Speziell in Anwesenheit mehrerer Spanier habe ich es bisher kaum jemals erlebt, dass jemand einen angefangenen Satz auch tatsächlich beenden konnte - irgendjemand ist immer da, der dem Sprecher ins Wort fällt, seinen Gedankengang entweder fortführt, kommentiert oder widerlegt. Sinnvollerweise tut derjenige das natürlich mit etwas erhobener Stimme, um sich gegen den bereits Sprechenden akustisch auch durchzusetzen. Was den wiederum nächsten, der schon auf seinen Einsatz lauert, dazu zwingt, die folgende Unterbrechung noch ein bisschen lautstärker zu gestalten .. und dann noch etwas lauter .. und so fort. Man stelle sich das Ganze nun in einem voll besetzten Lokal an einem Sonntagmittag vor, wo oft ganze Großfamilien mit zehn, zwölf oder mehr Personen um einen Tisch mit einer dampfenden paella herumsitzen, während alle gleichzeitig versuchen, zu Wort zu kommen. Wer da als Ausländer nicht nach zwei Stunden mit einem gepflegten Tinnitus im Ohr hinausgeht, muss wirklich hart gesotten sein! Übrigens wird dieses Sich-ins-Wort-Fallen hier keineswegs als die extreme Unhöflichkeit empfunden, als die wir es in Deutschland ohne Zweifel wahrnehmen würden. Es ist einfach Teil der spanischen Lebhaftigkeit, Extraversion und Spontaneität und wird als normales Kommunikationsverhalten völlig akzeptiert.

Das Bedürfnis nach dauerndem Reden mit anderen treibt hier noch andere seltsame Blüten. Ich kenne zwar keine genauen Statistiken, aber ich würde mal zuversichtlich behaupten, der Prozentsatz der Spanier, die ein iPhone besitzen, ist - vor allem im Verhältnis zur Bevölkerungszahl und zum durchschnittlichen Einkommen - weit überdurchschnittlich. Soziale Netzwerke wie Facebook sind hier wahrscheinlich noch beliebter als anderswo. Unwiderstehlich für die canarios ist nämlich die Verbindung von beiden, die es ihnen ermöglicht, gleichzeitig mit allen Freunden und Bekannten nah und fern in dauerndem Kontakt zu stehen und niemanden auch fünf Minuten lang in Ungewissheit darüber zu lassen, wo sie selbst sich gerade befinden und was sie dort gerade treiben! Es reicht nicht, mit der einen Hälfte des Freundeskreises gemeinsam im Open-Air-Konzert zu sein - man muss das auch unbedingt sofort per iPhone fotografieren, kommentieren und der anderen Hälfte des Freundeskreises via Facebook oder Twitter in Echtzeit mitteilen. Sicher, das tun viele gerade jugendliche Menschen weltweit gerne - aber ich habe das Gefühl, dass die canarios in dieser Hinsicht noch einen Tick extremer sind als andere Nationalitäten. Es ist wirklich schwierig, hier einen allein herumlaufenden Menschen anzutreffen, der gerade nicht in ein Handy spricht oder eine SMS verschickt. Selbst drakonische Strafen für Handytelefonate am Steuer können diesen Kommunikationsdrang nicht bremsen.

Und wo wir gerade beim Autofahren sind: Ein letztes wichtiges Kommunikationsmittel ist auf Gran Canaria ist auch die Autohupe. Sie wird oft und ausgiebig genutzt - allerdings nur zur freundlichen Kontaktaufnahme, kaum je (wie in Deutschland meist) zur aggressiven Einforderung des eigenen Rechts. Vor unübersichtlichen Kurven beispielsweise drückt man hier kurz darauf, um eventuell entgegenkommende Fahrer zu warnen. Falls diese gerade in der Betrachtung der Landschaft oder einer hübschen Passantin versunken und dabei etwas zu weit auf die Gegenfahrbahn geraten sein sollten, haben sie dann die Gelegenheit, sich rechtzeitig enger an den Fahrbahnrand zu drücken. Am wichtigsten ist die Hupe - el claxon - aber tatsächlich, um vorbeilaufende oder -fahrende Bekannte auf sich aufmerksam zu machen - keinesfalls dürfen Juan, María oder Carmen passieren, ohne einen selbst erkannt und gegrüßt zu haben! Als Beobachter fragt man sich unwillkürlich, ob auf Gran Canaria vielleicht irgendein informeller Wettstreit läuft, wer die meisten Menschen kennt?

Wir selbst wurden jedenfalls bereits nach wenigen Wochen Aufenthalt auf unseren Spaziergängen in den Ort von allen Seiten gegrüßt und angehupt - von unserem Elektriker, von unserem Nachbarn, von der Supermarktverkäuferin. Oft genug haben wir auch heute noch keine blasse Ahnung, wer uns da gerade so freundlich gegrüßt hat, grüßen aber natürlich immer ebenso freundlich zurück. Wir sind ja keine Spielverderber. Nur bei unseren gelegentlichen Taxifahrten vom Ort zu unserer Siedlung außerhalb musste ich mich schon öfter mal im Fonds zusammenreißen, um den Fahrer nicht zu bitten, doch wenigstens ab und zu einen Blick auf die Straße zu werfen! Denn speziell die Taxifahrer kennen natürlich praktisch jeden Einwohner, so dass sie Strecken innerhalb des Orts überwiegend freihändig - eine Hand an der Hupe, die andere zum Fenster hinauswinkend - zurückzulegen pflegen. Da der Tarif zonenweise berechnet wird, spielt Zeit keine Rolle. Man atmet also am besten tief durch und vertraut darauf, dass das langsame Fahrtempo schon Schlimmeres verhüten wird - was es in der Regel auch tut. Einen Riesenvorteil hat die Hup-Kommunikation für Ausländerinnen wie mich auf jeden Fall: man braucht keine Vokabeln und keine Grammatik für sie zu büffeln! Und versteht sie auch ganz ohne eingeblendete Untertitel ...