Kanarische Fahr-Lässigkeit


Dass der canario einen in vieler Hinsicht entspannteren Lebensstil pflegt als der Deutsche, habe ich ja an anderer Stelle schon beschrieben. Je länger ich hier lebe, desto mehr Dinge fallen mir ins Auge, die das unter Beweis stellen. Nicht nur, dass er wie schon erwähnt viel gelassener Auto fährt - er hat auch ein etwas anderes Verhältnis zu seinem fahrenden Untersatz als der durchschnittliche deutsche Autofahrer. Das wird einem schon dann klar, wenn man nur als Fußgänger an einer Reihe parkender Autos am Straßenland entlangläuft: Kaum ein Auto hier ist kratzer- oder beulenfrei. Die Sorgfalt, mit der die meisten Deutschen ihr Auto umsorgen, bei der kleinsten Schramme sofort zum Schleifen und Neulackieren in die Werkstatt hetzen und ganz allgemein Unsummen für Pflege und Wartung des guten Stücks ausgeben, ist den canarios offenbar völlig fremd. Auch das Bedürfnis, sich in regelmäßigen Abständen einen Neuwagen anzuschaffen, quält scheinbar die wenigsten von ihnen. So lange ein Auto fährt, tut es schließlich das, wozu es gebaut und gekauft wurde - Schluss, aus, Ende. Wozu darüber hinaus großen Aufwand hineinstecken?

Ein Auto ist ein Auto ist ein Auto - und bunt ist sowieso beautiful!

Ein Seitenspiegel wurde abgefahren? Kein Anlass zur Aufregung, man hat ja noch einen zweiten. Die hintere Stoßstange hängt herunter und schleift bei Bodenwellen gelegentlich über den Asphalt? Kein Problem, mit einem Stück Draht ist das ruck-zuck repariert! Dellen und Kratzer sind denn auch hier weniger optische Ärgernisse, die behoben werden müssten, als vielmehr persönliche Kennzeichen, mit deren Hilfe man das Auto schneller als das eigene identifizieren kann. Nur, wenn eine Beschädigung tatsächlich die Funktionalität des Autos beeinträchtigt - sich z. B. eine eingedrückte Tür nicht mehr öffnen lässt oder ein Kotflügel ganz abgefallen ist - wird widerwillig repariert. Dann aber bitte so kostengünstig wie möglich!

Entsprechend beliebt sind bei den Canarios auch die hiesigen Schrottplätze, die depósitos de chatarra. Dort findet man für kleines Geld mit ein wenig Glück das gesuchte Ersatzteil, und mit noch mehr Glück hat man dann einen handwerklich begabten Cousin oder Kumpel, der das kaputte Teil austauscht. An Petitessen wie farblicher Übereinstimmung kann man sich dabei natürlich nicht festbeißen, und Umlackieren würde ja nur zusätzliches Geld verschlingen. Relativ häufig sieht man deshalb auf Gran Canaria sehr farbenfrohe Autos herumfahren: rot mit einem grünen Kotflügel und einer beigen Motorhaube, weiß mit hellblauer Beifahrertür oder schwarz mit knallgelbem Heck. Je nach Zusammenstellung ist man als Betrachter gelegentlich etwas unsicher, ob es sich dabei nun eigentlich um ein speziell angefertigtes Designermodell oder um eine preiswerte Reparaturlösung handelt. Originell ist es aber auf jeden Fall - und im Parkhaus bestimmt eine große Hilfe, wenn man mal eben vergessen hat, auf welchem Parkdeck man das Teil denn abgestellt hatte!

Diese entspannte Art des Umgangs mit der Optik des fahrbaren Untersatzes kannten und schätzten wir bereits von unseren verschiedenen Urlauben auf dem spanischen Festland und auch in Frankreich. (Ich werde nie vergessen, wie wir einmal bei einem Parisaufenthalt von einer Bekannten durch die Innenstadt chauffiert wurden. An einer roten Ampel hielt sie vorschriftsmäßig, während ihr Hintermann offenbar den Bremsweg etwas unterschätzt hatte und mit ziemlichem Schwung auf ihr Heck auffuhr. Es tat einen ordentlichen Schlag - genug mit Sicherheit, dass jeder deutsche Autofahrer mindestens nach der Versicherungsnummer des Auffahrenden, vielleicht auch nach der Polizei verlangt hätte. Nachher ist der Unterboden irgendwie verzogen, und dann ...!! Nicht so in Paris. Unsere Bekannte stieg aus, der Hintermann ebenso. Beide begutachteten einen Moment die Lage und die etwas verbeulten Stoßstangen, schüttelten dann achselzuckend die Köpfe und stiegen wieder in ihre jeweiligen Autos, um ihre Fahrt fortzusetzen. Alles noch innerhalb der Rotphase der Ampel - kein zusätzlicher Aufenthalt. Wir saßen im Fonds und wunderten uns, waren aber durchaus angetan von dieser gelassenen Art, denn wir sind beide selbst auch eher keine Autofetischisten.)

Größe 54 und bauchfreies Top? Aber immer doch!

Lässig geht der canario außer mit seinem Auto auch meist mit seinem Aussehen um. Da wäre zunächst einmal die Figur selbst. Natürlich, es gibt auch hier sehr körperbewusste Menschen, die sich mit viel Sport und disziplinierter Ernährung in Bestform halten. Man sieht sie gelegentlich im neonfarbenen Sportdress über den Lenker ihrer Rennräder gebeugt in selbstmörderischer Manier auf den Standstreifen der Autobahn dahinflitzen (so was wie Fahrradwege gibt es hier nirgends und immer mal wieder kommt es zu schweren Unfällen deshalb). Oder sie joggen verbissenen Blickes die Strandpromenaden entlang, die Stöpsel ihrer MP3-Player im Ohr und die Augen fest auf das Pulsmessgerät an ihrem Handgelenk gerichtet. Verglichen mit dem Festland sind diese Menschen hier allerdings deutlich in der Minderheit. Sehr viele canarios scheinen mir bemerkenswert uneitle Zeigenossen zu sein.

Speziell bei den Frauen gibt es eine für mein Gefühl ungewöhnlich große Zahl auch relativ junger, die gelinde gesagt sehr rundlich sind. Was an sich erst mal noch nicht so furchtbar seltsam ist, da Übergewicht in den meisten Industrienationen weltweit ja auf dem Vormarsch ist. Überraschend finde ich eher die Art des Umgangs der canarias mit ihren Rundungen. Irgendwie scheinen sie es geschafft zu haben, sich von dem Magerkeits-Terror der westlichen Schönheitsindustrie weniger vereinnahmen zu lassen als Deutsche, Französinnen oder auch Festlandsspanierinnen. Viele kanarische Frauen tragen ihre Pfunde nicht nur gelassen, sondern man möchte fast sagen: mit einem gewissen Stolz mit sich herum. Größe 54 und bauchfreies Top? Aber jederzeit gerne doch! Am besten mit Pailletten und hauteng! Niemand verbirgt hier schamhaft seine mühsam angefutterte Cellulitis unter wallenden Gewändern. Leggins stehen auf der Beliebtheitsliste ganz weit oben, ebenso wie Hot Pants, und zwar keineswegs nur bei magersüchtigen Dreizehnjährigen, sondern auch bei der gestandenen Mittfünfzigerin, die aussieht, als trainiere sie für den nächsten Sumo-Wettkampf.

Ein Verkaufsschlager auf vielen Wochenmärkten ist eine Hose, deren Oberschenkel und Bund sich im Verhältnis zum Unterschenkel dramatisch ausdehnen lassen und sich damit selbst extremer weiblicher Birnenförmigkeit gewachsen zeigen. Auch Bikinis trägt hier eigentlich jede Frau, völlig unbekümmert um die Frage, ob sie sich das nach Ansicht von Karl Lagerfeld und Konsorten noch "leisten" kann. Mit meinem Tankini bin ich schon eine seltsame Exotin; einteilige Badeanzüge werden hier von der absoluten Mehrheit nur zum Schwimmsport angezogen, niemals zum Sonnen oder zu einem normalen Strandbesuch. Wer jemals die Venusfigur der Guanchen im kanarischen Museum von Las Palmas gesehen hat, muss vermuten, dass sich das damalige Schönheitsideal hier - Heidi Klum zum Trotz! - erfolgreich bis in die Neuzeit behauptet hat: ein weiblicher Körper mit relativ schmaler Taille, aber sich dann stark verbreitenden Hüften und sehr, sehr üppigen Oberschenkeln. Wie viel einfacher ist es doch für die meisten Frauen, diesem Ideal gerecht zu werden als dem androgynen Vorbild aus den Frauenzeitschriften! Und wie viel genussvoller und fröhlicher lebt es sich damit!

Oberste Prämisse in Sachen Mode: Bequemlichkeit und angenehmes Tragegefühl bei warmen Temperaturen

Auch in Sachen Kleidung scheinen mir canarios um einiges uneitler zu sein als viele andere Nationen. Kürzlich las ich in einem Artikel von Elisabeth von Thadden in der ZEIT: "Vor 20 Jahren kaufte sich ein Amerikaner im Schnitt 34 Kleidungsstücke pro Jahr, heute müssen es doppelt so viele sein. Das heißt: fast alle fünf Tage ein neues, Strümpfe nicht mitgezählt (..)." Ich ließ das Blatt sinken und überlegte kurz. Seit ich auf den Kanaren lebte - also etwa seit einem Dreivierteljahr - hatte ich mir sage und schreibe vier neue Kleidungsstücke zugelegt. Mein Mann amüsierte sich schon darüber, dass ich jedes Mal, wenn er vorschlug, in die vor einigen Monaten neu eröffnete  Shopping-Mall "Mirador" zu gehen, die vor allem Kleidungsgeschäfte beherbergt, gelangweilt mit dem Kopf schüttelte. Gut, ich bin nie ein echter Mode-Junkie gewesen, auch in Deutschland nicht, aber so ein-, zweimal im Monat einen netten Einkaufsbummel in Karlsruhe, Mannheim oder Heidelberg, wenn es sich ergeben hatte auch in anderen größeren Städten, das hat mir schon immer gefallen. Zum mindesten hätte ich die Frage nach den aktuellen Herbst- oder Frühjahrsfarben wie aus der Pistole geschossen beantworten können. Hier nicht. War mir mein Modebewusstsein bei der Überfahrt mit der Fähre hierher irgendwo unbemerkt in den Atlantik geplumpst oder was?

Ich glaube, ich habe die Antwort mittlerweile für mich gefunden: Es liegt natürlich zum einen schlicht am Klima - es ist viel einfacher, sich in einem Land wie hier einzukleiden, wo die tiefste Temperatur, die seit 40 Jahren in unserem Ort gemessen wurde, bei 13 Grad lag und auch extreme Hitze über 30 Grad eher die Ausnahme darstellt. Die ganzen Herbst- und Winterklamotten, die in Deutschland meinen Schrank verstopft hatten, brauche ich hier nicht. Aber das ist nur ein Bruchteil der Erklärung - schließlich könnte mich ja nichts davon abhalten, dafür die Frühjahrs- und Sommergarderobe bis zur Unkenntlichkeit aufzublähen und statt zehn kurzärmliger Blusen jetzt zwanzig im Schrank zu bunkern. Es liegt auch nicht an fehlenden Gelegenheiten; es gibt hier sehr schöne Bekleidungsgeschäfte. Doch ich verspüre einfach nicht das Bedürfnis danach. Der Konkurrenzdruck ist einfach zu gering.

Die Kanaren mögen alles sein - ein "Jahrmarkt der Eitelkeiten" sind sie auch in modischer Hinsicht nicht. Hier trägt jeder, was ihm gefällt und vor allem, worin er sich gerade wohlfühlt. Natürlich würde kein canario in der Badehose zum Mittagessen gehen (wie so mancher deutsche Tourist in Playa del Inglés), aber ingesamt gilt: Oberste Prämisse in Sachen Mode ist Bequemlichkeit und angenehmes Tragegefühl bei warmen Temperaturen. Alles andere ist sekundär. Niemand wird schräg angeschaut, weil er die falsche oder gar keine Marke trägt. Selbst in eher elitären Kreisen und Situationen - z. B. auf dem Golfplatz oder in Restaurants der gehobeneren Klasse - ist die Kleiderordnung sehr lässig und hemdsärmelig. Zugegeben, ich war bisher noch nicht in der Oper und es kann gut sein, dass es dort anders aussieht - aber irgendwie kann ich es mir kaum vorstellen.

Ich legte die Zeitung weg und schaute meinen Mann besorgt an. Seine Vorliebe für Crunch-T-Shirts im Indien-Look ist hier etwas ins Kraut geschossen; rasiert hat er sich bestimmt seit einer Woche nicht und die kurze Hose, die er trägt, zieht er eigentlich zu jeder Gelegenheit außer zum Schlafen an. Seine geliebten Birkenstock-Jesuslatschen wird man ihm wahrscheinlich irgendwann chirurgisch vom Fuß entfernen müssen, denn die begleiten ihn hier das ganze Jahr über. "Findest du nicht, dass wir hier ein bisschen verkommen?", fragte ich ihn. "Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal richtig schick gemacht?" Mein Mann schaute mich prüfend an. Sein Blick schweifte über meine kurze Hose, mein ausgeleiertes "Hello-Kitty"-Top, die Haare, die ich achtlos zum Pferdeschwanz zusammengezurrt hatte. Er musterte die schwielige Hornhaut an meinen nackten Füßen, die durch das viele Barfußlaufen hier Ausmaße annimmt, die jede deutsche Fußpflegerin in Depressionen stürzen würden, mein sonnenverbranntes, ungeschminktes Gesicht und meine Hände, die von meinen gärtnerischen Tätigkeiten am Vormittag noch etwas mitgenommen aussahen. Dann schüttelte er den Kopf: "Du siehst total zufrieden und entspannt aus. Besser denn je. Was willst du eigentlich von mir?" - und wandte sich wieder seinem cortado zu.

Wahrscheinlich hat er Recht.