Mit Wurstsalat gegen die Anpassungskrise


Für einen Menschen wie mich, der eigentlich schon immer eher heimatverbunden und bodenständig war, war der Umzug in ein anderes Land genau betrachtet eigentlich ein ziemlich wahnwitziges Unterfangen. (Wahrscheinlich erinnern sich einige meiner früheren Klassenkameradinnen noch mit Schaudern jenes Skilandheimaufenthalts in der sechsten Klasse, als ich - heimwehgeschüttelt und abgrundtief verzweifelt - trostlos einen Tag und eine Nacht durchheulte, die Nahrungsaufnahme ebenso wie das Aufstehen aus dem Bett verweigerte und Lehrer wie Mitschülerinnen damit an den Rand ihrer nervlichen Belastungsfähigkeit trieb. Übrigens noch mal ein Danke an dich, liebe Alexandra - deinen stundenlangen geduldigen Zuspruch damals, der mich irgendwann dann doch erreichte und aus dem Loch - vulgo Bett - herausholte, habe ich dir bis heute nicht vergessen!)

Auch wenn ich mich seit damals hoffentlich etwas weiterentwickelt habe, gehöre ich doch zu den Menschen, die sehr an der Scholle, ihrem persönlichen Umfeld und dem Vertrauten hängen. Das war mir auch durchaus bewusst, als wir uns zu unserem Umzug nach Gran Canaria entschlossen, und ich rechnete deshalb auch von vornherein mit Schwierigkeiten in dieser Hinsicht. Andererseits sagte ich mir energisch, dass man an Herausforderungen wächst und dass man nur mit leeren Händen Neues empfangen kann,  nicht, indem man Altes festhält. Und wenn die Dreizehnjährige von damals gar zu ängstlich in mir wurde, dann beruhigte ich sie (und mich!) mit dem Satz, den ich gebetsmühlenartig bei Bedarf auch allen sonstigen Zweiflern zur Antwort gab: "Das ist bloß ein Experiment, das muss nicht für immer sein - wenn's uns nicht gefällt, dann kommen wir halt wieder!"

Wo geht's denn hier zur Krise, bitte?

Umso verwunderter, ja geradezu irritiert, war ich deshalb, als ich in den ersten Monaten hier überhaupt kein Heimweh hatte. Dass während der stressigen Vorbereitungs- und Umzugsphase keine Zeit für sentimentale Anwandlungen blieb, fand ich ja noch halbwegs verständlich (obwohl mich auch in diesen Wochen und Monaten sämtliche Menschen, die mich gut kennen, ungläubig fragten, ob es mir denn nicht schwer falle, mich von unserem so liebevoll ausgesuchten und eingerichteten Haus und Garten und fast allen unseren Besitztümern so einfach zu trennen). Nein, das fiel mir gar nicht schwer! Ich empfand es vor allem als Erleichterung, so viel Ballast abwerfen zu können. Bis auf zwölf Umzugskartons, die wir in unserem Kangoo stapelten, wurde alles, aber auch wirklich alles, was wir in den ersten 43 Jahren unseres Lebens angehäuft hatten, entweder verkauft, verschenkt oder weggeworfen. Eine sehr interessante und aufschlussreiche Übung, wie ich feststellte! Allerdings auch viel Arbeit - also schien es mir einleuchtend, dass da für Trauer und Abschiedsschmerz kein Platz war. Das würde dann sicher irgendwann später folgen.

Tat es aber erst einmal nicht. Monatelang, den ganzen Winter über bis weit in den Frühling hinein stand ich morgens auf in der Erwartung, heute aber bestimmt endlich mal in eine ordentliche Heimweh-Depression zu verfallen. Weihnachten kam und ging - ein Fest, das mir in früheren Jahren immer viel bedeutet und in das ich viel Energie investiert hatte: Haus dekorieren, Plätzchen backen, Geschenke besorgen, Weihnachtskarten verschicken, Festessen kochen, mit der Familie feiern, Nervenzusammenbruch bekommen, weil wieder nicht alles so funktionierte, wie ich mir das vorgestellt hatte, heilige Eide schwören, es nächstes Jahr anders zu machen ... All das fiel hier mit einem Schlag weg. Mein Geburtstag zwischen den Jahren, Silvester, Neujahr - nichts davon schien geeignet, mich in sentimentale Stimmung zu versetzen. Januar, Februar, März und April verstrichen, ohne dass sich an meiner ausgeglichenen Verfassung etwas änderte. Langsam fing ich an zu glauben, dass ich ungeschoren davon kommen würde. Ob die mir offiziell zustehende Krise einfach ausfiel? Vielleicht war ich dem Heimweh ja durchs Netz geschlüpft?

Erwischt!

Mitte, Ende Mai, als ich schon überhaupt nicht mehr damit rechnete, änderte sich das plötzlich. Nicht ganz so, wie damals im Landschulheim, glücklicherweise. (Älterwerden hat doch seine Vorteile!) 80 - 90 % der Zeit bin ich hier immer noch glücklich und zufrieden - an 10 - 20 % der Tage aber wache ich seither auf und denke, dass ich hier niemals Wurzeln schlagen kann. Dann laufe ich mit verknitterter Seele herum und bin davon überzeugt, dass es mir in meiner alten Heimat, der Südpfalz, jetzt viel besser ginge. Meine Freundinnen fehlen mir - ein Anruf von einer von ihnen oder eine E-Mail sind an solchen Tagen nicht wie üblich Anlass zur Freude, sondern vertiefen nur noch mein Gefühl des Verlorenseins und der Einsamkeit. Die gelassene kanarische Mentalität, die mir sonst so sympathisch ist, treibt mich dann zur Weißglut. Wie kann man nur so langsam und un-dynamisch sein?? Ich sehe nicht mehr das blaue Meer, den blauen Himmel und die blühenden Bougainvilleen. Stattdessen beißt sich mein Blick an den hässlichen Plastikfolien fest, die die Bananenplantagen vor dem Wind schützen sollen. Ich ärgere mich über den achtlos weggeworfenen Müll am Straßenrand und die grundsätzlich über Putz verlegten Stromleitungen, die hier fast überall die Häuserfassaden verschandeln. Jedes spanische Wort, das an solchen Tagen an mein Ohr dringt, löst in meinen Synapsen nur einen einzigen, widerborstigen Reflex aus: "Ich werde diese Sprache NIENIENIE anständig lernen! Wie soll ich den Rest meines Lebens in einem Land verbringen, in dem ich nicht sofort alles jederzeit mühelos verstehe, was um mich herum gesprochen wird? Unmöglich!!" Wenn es ganz schlimm kommt, surfe ich heimlich im Internet auf Immobilienportalen herum, schaue mir sehnsüchtig die Fotos von zum Verkauf angebotenen Winzer- und Fachwerkhäusern in der Pfalz an und rechne mit gerunzelter Stirn Hypothekenzinsen aus. Die Dreizehnjährige in mir wird renitent und heult los wie in ihren besten Zeiten: "Ich hab Angst!! Ich will HEIM!!! MAAAAAAAMIIIIII!!!!!"

Ehe die Sache ganz aus dem Ruder laufen konnte, fiel mir glücklicherweise ein, dass ein früherer Kommilitone von mir mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn bereits ein Jahr vor uns ins Ausland gegangen war - beruflich und von vornherein zeitlich begrenzt, aber doch. Dank Skype war es kein Problem, ihn in Moskau anzurufen und zu fragen, was zur Hölle denn eigentlich mit mir plötzlich los sei. War es ihm und seiner Frau ähnlich ergangen? Was war davon zu halten?

Nachdem ich dem armen Swen eine halbe Stunde die Ohren vollgejammert und ihm von frühmorgendlichen Panikattacken, Heulanfällen und irrationalen Angstzuständen berichtet hatte, gelang es ihm endlich, meinen Redeschwall zu unterbrechen. "Das ist ganz normal", beruhigte er mich. "Du liegst genau im Zeitfenster - das kommt nach sechs Monaten bei jedem. Man nennt es Anpassungskrise." Jetzt hatte das Kind ja schon mal einen Namen, das machte die Sache bereits leichter. "Für dieses Phänomen gibt es sogar ein psychologisches Modell", dozierte Swen weiter. Studierte Psychologen im Freundeskreis sollte wirklich jeder haben, dachte ich, es gibt nichts Besseres in so einer Situation! Dann fiel mir ein, dass ich ja selber auch Psychologin bin und ich stürzte mich in die Recherche. "Anpassungskrise Modell Psychologie" tippte ich in Google ein. Und wurde auch gleich fündig.

Auswanderergefühle - psychologisch betrachtet

„Im Allgemeinen“, so belehrt mich die Magisterarbeit von Nadine Kerber, eingereicht an der Universität Innsbruck, „durchleben Zugezogene bei der Eingewöhnung in eine neue Umgebung oft verschiedene Phasen der Anpassung.“ Aha! Mal sehen - welche Phasen gibt es denn da?

"Phase 1: Entschlussfreude: Nachdem der Entschluss zum Umzug gefallen ist, empfindet der Auswanderer oft große Freude darüber, dass die Entscheidung gefällt wurde und dass das Abenteuer bald losgeht." - Stimmt, kann ich so bestätigen! Diese Phase war echt klasse, spannend und voller Tatendrang. Mein Tag hatte 24 Stunden und wenn‘s nicht reichte, hab ich einfach die Nacht noch dazugenommen!

"Phase 2: Anreisebefürchtungen: Die Phase der Entschlussfreude wird meist noch vor der Abreise von einer Phase des Zweifelns abgelöst. Es stehen viele Fragen im Raum, und viele Dinge müssen noch vor der Abreise organisiert werden. Insbesondere dann, wenn die neue Region noch sehr unbekannt ist, wird emotionaler Stress ausgelöst. War die Entscheidung die richtige?" - Hm, diese Phase habe ich, wenn überhaupt, nur ganz kurz abgehandelt. Natürlich schießt einem diese Frage ab und an durch den Kopf, während man Kisten packt, Sachen aussortiert und immer wieder in teils fassungslose, teils ungläubige, teils auch missgünstige Gesichter um sich herum schaut, wenn man erzählt, was man vorhat. Aber irgendwie scheine ich für diese Phase überhaupt keine Zeit gehabt zu haben. Wahrscheinlich war ich einfach zu beschäftigt mit den Vorbereitungen, um Zweifel da noch zuzulassen. Wenn man bedenkt, in welchem Affenzahn wir das Ganze - von der endgültigen Entscheidung bis zum Umzug nicht mal ein halbes Jahr! - durchgezogen haben, sogar ziemlich sicher.

"Phase 3: Anfangsbegeisterung: Nach der Ankunft in die neue Umgebung herrscht Faszination und Euphorie. Die ersten Kontakte z.B. mit neuen Kollegen in der Region sind meist positiv, und über kleinere organisatorische Schwierigkeiten wird in dieser Phase tendenziell hinweggesehen. Der Arbeits- und Lebensalltag ist noch nicht eingekehrt." - Na, diese Phase habe ich zum Ausgleich wohl so richtig lange ausgedehnt und ausgekostet! Monatelang habe ich hier einfach nur zufrieden und glücklich mein neues Leben genossen, mich an der schönen Umgebung, dem schönen Wetter und den vielen neuen Eindrücken um mich herum gefreut. Und mich gewundert wo eigentlich die zu erwartende Krise bleibt?

"Phase 4: Psychologische Eingewöhnung: Der Kontakt zu neuen Menschen und zur Region wird intensiver. Die Unterschiede zum vorherigen Lebensraum treten nun stärker in den Vordergrund als in der Anfangsphase. Diese Phase mündet meist in negative Empfindungen beim Auswanderer und evtl. seiner Familie." - Äh, ja. Wahrscheinlich war es mein erster Zahnarztbesuch hier im Mai, der den Wendepunkt markierte. Diese Erfahrung kann man mit Fug und Recht unter "der Kontakt zu neuen Menschen wird intensiver" einordnen! Ich musste notgedrungen wegen Zahnschmerzen da hin, die sich nicht länger ignorieren ließen, und hatte mir in den Kopf gesetzt, dass ich dem guten Mann schon selber erklären können würde, worum es ginge. Mein Spanisch hatte sich seit unserer Ankunft ja schon ein bisschen gebessert, und Vokabeln wie Plombe (empastel) und Betäubung (anestesia) hatte ich vorher nachgeschaut.

Erklären, welcher Zahn mir wehtat, konnte ich auch wirklich richtig gut - leider brach dann ein kanarischer Wortschwall über mich herein, in dem es ganz und gar nicht nur um eine Plombe ging, sondern plötzlich um drei, außerdem um meine Zahnspange (aparato ortodóntico) aus der Kindheit, eine Beißschiene (férula dental) und die Tatsache, dass ich nachts offenbar seit Jahren mit den Zähnen knirsche und meine Beißerchen damit ruiniere, ohne dass mein teuer bezahlter deutscher Zahnarzt darüber jemals ein Sterbenswörtchen verloren hätte (mierda! - Hatte der das nicht gesehen??). Da war ich vokabeltechnisch dann doch etwas überfordert und es blieb mir nichts anderes übrig, doch mal wieder wie Klein-Doofchen meinen Gatten aus dem Wartezimmer herbeizuzitieren, damit er den Dolmetscher machte. Der Zahnarzt war ein bisschen genervt, weil er alles noch mal erklären musste. Genervte Zahnärzte sind keine schöne Sache, in keinem Land der Welt! Anschließend saßen wir (also mein Mann und ich, nicht der Zahnarzt) dann in einem Café in der Fußgängerzone, ich heulte zur Verwunderung der Passanten ein Taschentuchpäckchen durch und war davon überzeugt, auf dieser Insel nie im Leben selbständig zurechtzukommen.

"Phase 5: Anpassungskrise: In dieser Phase fühlen sich Auswanderer überfordert und entwickeln eine negative Haltung gegenüber der neuen Umgebung mit ihrer Kultur. Oft wird diese Phase von Heimweh begleitet. Auswanderer ziehen sich in dieser Phase sehr oft zurück oder suchen Kontakt zu ihresgleichen. Diese Phase entsteht nicht bei allen Auswanderern und kann in unterschiedlicher Tiefe und Länge auftreten. Eine geringe kulturelle Distanz oder Kenntnis der Kultur mildert diese Phase ab." - Tja, da hatte es mich also dann doch noch erwischt. Die Symptomliste konnte ich jedenfalls ziemlich vollinhaltlich und vollumfänglich abhaken: Schlafstörungen, Verdauungsprobleme, Sorgen um Gesundheit, Gefühle von Hilflosigkeit und Niedergeschlagenheit, Rückgang des Selbstvertrauens, Wutausbrüche, Selbstmitleid .... Den Alkoholmissbrauch nicht zu vergessen (der funktioniert hier dank Sangria und cerveza besonders einfach)! Das einzige aufgeführte Symptom, das ich aus figurtechnischer Sicht echt mal begrüßt hätte - Appetitverlust - blieb natürlich aus. Zusammenfassend könnte man über diese Phase sagen: ich wurde täglich fetter und panikte dabei ausführlich herum.

Keine Chance der Anpassungskrise!

Aber gut, ich bin ja wie schon gesagt ausgebildete Psychologin. Muss ja auch zu was nutze gewesen sein, das ganze Studium! Deshalb heulte ich zwar morgens unter der Dusche häufiger mal, wurde aber anschließend ganz nach Lehrbuch brav aktiv und arbeitete gezielt an den Dingen, die geändert werden mussten bzw. antidepressiv wirken. Man kann ja nicht immer nur gute Ratschläge an andere verteilen, man muss sie auch selber befolgen: Bei schlechter Stimmung also nicht drin rumwühlen, sondern gezielte Gegenmaßnahmen ergreifen! Hier meine persönlichen Top Ten antidepressiver Notfallmaßnahmen gegen Anpassungskrisentage:
  1. In einen vivero fahren (die hiesige Version von Gartencentern) und dort so viele Pflanzen und neue macetas kaufen, wie sich mit aller Gewalt in einen Kangoo stopfen lassen. Den widerspenstigen Gatten zwingen, selbige die Treppen zu unserem Haus hochzuschleppen (man kann leider nicht mit dem Auto direkt davor parken, was verkehrstechnisch angenehm, tragetechnisch manchmal etwas lästig ist). Anschließend die Pflanzen in die Blumentöpfe verteilen, eingießen und sich am Ergebnis erfreuen. Wirkt extrem stimmungsaufhellend!

  2. An unseren persönlichen Lieblingsstrand Sardina del Norte fahren und dort im Meer schwimmen gehen. In schweren Fällen: im Anschluss daran im nahe gelegenen Strandrestaurant El Ancla eine ensalada de la casa, einen gofio escaldado und gambas al ajillo verspeisen. Hilft immer, vor allem, wenn die nette Jenny, die Tochter der Besitzer, einen mit strahlendem Lächeln und Küsschen begrüßt! Und wenn man noch einen draufsetzen will: Beim Heimkommen den deutschen Wetterbericht hören. Mindestens 6 Monate im Jahr, eher öfter noch ein unschlagbarer Gute-Laune-Verstärker.

  3. Runter an den Hafen von Agaete laufen und in der kleinen Gelatería Artesanía dort das beste Eis von ganz Gran Canaria essen (ganz bestimmt, ich hab's getestet!). Meine Lieblingssorte heißt kinder und schmeckt genau so, wie sie klingt: Kinderschokolade als Eis! Supercremiges Sahneeis mit Nutella-Schlieren darin. Perfekter Seelenbalsam!

  4. Ins Tierheim nach Bañaderos fahren, Katzen streicheln und Gehege sauber machen. Ein ganz wichtiger Bestandteil meines Raus-aus-der-Krise-rein-in-die-Integration-Programms hier. Statt immer nur über den mangelnden Tierschutz zu schimpfen, haben wir uns entschlossen, uns aktiv für die Katzen Gran Canarias zu engagieren. Über das von uns dazu ins Leben gerufene Projekt Gatopción werde ich an anderer Stelle noch ausführlicher schreiben. Ein paar Stunden im örtlichen Tierheim zwischen den dort sehnsüchtig auf ein neues Zuhause wartenden Samtpfoten rufen mir jedenfalls unfehlbar in Erinnerung, dass ich hier gerade dringend gebraucht werde und mich deshalb gefälligst sofort zusammenreiße!

  5. An den Stadtstrand von Las Palmas, Las Canteras, fahren und dort vom einen Ende (Auditorio Alfredo Kraus) bis zum anderen Ende (La Isleta) laufen, am besten mit den Füßen im seichten Wasser oder zumindest im Sand. Zwischendrin immer wieder mal Halt machen und etwas an einer der vielen kleinen Strandbars trinken und ein paar aceitunas oder gesalzene almendras naschen. Am Ende des Spaziergangs im Restaurant La Oliva ein paar spanische tapas genießen. Und als krönenden Abschluss in der Pizzeria O Sole Mio direkt links davon einen polvito uruguayo essen. Das ist unser absoluter Lieblingsnachtisch hier: Auf eine Schicht dulce de leche (karamellisierte gezuckerte Kondensmilch) wird eine Schicht aus pulverisierten Keksen und Meringen gehäuft. Darauf folgt eine Schicht aus mit dulce de leche verrührtem Frischkäse, dekoriert wird das Ganze dann wieder mit einem Schuss dulce de leche. Mit dem Teil kann man einen Diabetiker umbringen, aber es schmeckt sensationell! Jede Depression nimmt vor dieser geballten Kalorienladung umgehend Reißaus - zumindest bis zum Betreten der Waage am nächsten Morgen ...

  6. Mit der Schnellfähre für einen Tagesausflug nach Teneriffa übersetzen. Unser Dorf Agaete hat hierfür die strategisch günstige Pole Position: vom hiesigen Hafen aus verkehrt mehrmals täglich die Fähre der Fred Olsen-Gesellschaft, mit der man in knapp über einer Stunde Santa Cruz de Tenerife erreicht. Schon die Fahrt übers Meer ist dazu angetan, meine Laune zu heben. Ein Bummel durch die Innenstadt von Santa Cruz de Tenerife im Anschluss, irgendwo in einer von Bäumen beschatteten Seitenstraße ein kleiner Imbiss, dann noch ein Abstecher zum bunten Mercado Nuestra Señora de Africa und im Sonnenuntergang dann übers Meer zurück nach Hause - perfekter kann ein Tag kaum sein!

  7. Eine Wand neu streichen. Wahlweise auch ein ganzes Zimmer - je nach Bedarf und persönlicher Tagesform. Renovierungsaktionen jeder Art haben bei mir schon immer zuverlässig für Zufriedenheit gesorgt, und unser relativ kleines, ziemlich verwinkeltes Haus mit drei unterschiedlich hoch gelegenen, in sich verschachtelten Terrassen bietet mir viele Möglichkeiten, mich hier auszutoben. Die Freude über das gelungene Tagesprojekt verdrängt Heimweh zuverlässig und gibt mir das Gefühl, wieder ein Stück mehr "anzukommen".

  8. Nach Las Palmas fahren und einen Bummel durch die Fußgängerzone Triana machen. Die Atmosphäre dort ist zu jeder Jahreszeit unwiderstehlich, die Dekorationen wechseln. Mal ist die Triana Ort einer Kunstausstellung, mal spielt ein Orchester klassische Live-Musik mitten zwischen den Geschäften, und in den Weihnachtswochen ist sie wunderschön und sehr aufwändig illuminiert. Immer flanieren jede Menge Menschen hier herum und sitzen in den Straßencafés und -restaurants (ein Luxus, den man in Deutschland nun mal nicht rund ums Jahr genießen kann, was einem dann immer wieder bewusst macht, in was für einer privilegierten Lebenssituation man hier ist). Man beginnt am besten mit einem Aperitif auf der Plaza San Telmo, wo ein hübscher Jugendstil-Kiosk unter alten Bäumen zum Sitzen einlädt, und arbeitet sich dann sukzessive bis Santa Ana in der Altstadt vor.

  9. Eine Fahrt in den Süden der Insel, nach Maspalomas, wo sich ein Spaziergang entlang der Strandpromenade bis zum Faro anbietet. Wenn noch mehr Bewegung angesagt ist, einfach am Strand weiterlaufen, vorbei an den Dünen (übrigens den größten in Europa) bis nach Playa del Inglés. Und wenn man dann immer noch nicht müde ist: weiterfahren bis Puerto de Mogán und am Hafen über die von Bougainvilleen überwachsenen Brückchen schlendern. Einfach bezaubernd!

  10. Last but not least DAS Hardcore-Programm für besonders schwierige Tage: Ein echter badischer Wurstsalat, mein Lieblingsessen seit eh und je. Eigentlich bin ich ja keine passionierte Fleischesserin; ich weiß zwar ein gutes Steak hier und da zu schätzen und verschmähe auch einen leckeren jamón serrano nie. Grundsätzlich könnte man mich aber wahrscheinlich ohne großen Aufwand zu einer fleischlosen Ernährung umerziehen - mit einer Ausnahme, nämlich besagtem Wurstsalat. Schuld daran ist wahrscheinlich der Metzger meiner Mutter, der mich schon im Kinderwagen bei jedem Einkauf dort mit einem "Rad'l Wurst" anfütterte und so in die lebenslange Abhängigkeit von seiner exzellenten Fleischwurst trieb. Die ist auch wirklich die einzige Wurst, die ich hier manchmal vermisse (ansonsten finde ich die spanische charcutería der deutschen in vieler Hinsicht eher überlegen). Wenn das Heimweh ganz arg zwackt, besorge ich mir deshalb das, was der Fleischwurst meiner Kindheit so nahe wie möglich kommt (die Suche nach passenden Wurstprodukten hier war lang, entbehrungsreich und aufwändig, aber doch schließlich erfolgreich!) und bereite mir mit Zwiebeln und sauren Gürkchen (manchmal auch noch mit Tomaten, das hängt vom jeweiligen Jieper ab) einen richtig schönen heimischen Wurstsalat zu! Lecker!

Mit Hilfe dieser 10 Notfallmaßnahmen ist es mir mittlerweile - wir haben jetzt Ende September - ganz gut gelungen, aus der Anpassungskrise hinaus und auf Phase 6 zuzusteuern:

"Phase 6: Anpassung: In dieser Phase gewöhnt sich der Auswanderer an seine neue Umgebung, und die Einstellung zur Situation wird nach und nach positiver."

In Sichtweite ist die auf jeden Fall schon. Wahrscheinlich noch zwei, drei Wurstsalat-Orgien, dann müsste es eigentlich geschafft sein, denke ich!

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