Von Mäusen und Menschen oder: Die Maus im Küchenschrank



Alle unsere Kater (derzeit sind es fünf, die ihren festen Wohnsitz bei uns angemeldet haben; ein sechster kommt bei Bedarf sporadisch vorbei) sind hervorragende Jäger. Kein Wunder, sie kommen ja auch alle von der Straße und haben früh lernen müssen, sich selbst zu versorgen. An ihrem ausgeprägten Jagdtrieb hat auch die konstante Verfügbarkeit durchaus sehr hochwertigen und teuren Katzenfutters in großer Auswahl nichts geändert. Einzige Ausnahme ist unser erst vor einem halben Jahr dazu gekommener Charlie, den wir mit drei Wochen als Findelkind über eine Tierschutzfreundin bekamen und mit dem Fläschchen aufgepäppelt haben. Aber auch den hat sein Ziehpapa Felix sich frühzeitig zur Brust genommen und ihm beigebracht, wie man Mäuse und Eidechsen killt. Das waren richtige Unterrichtsstunden, die man da beobachten konnte: Felix schleppte bereits halb tote Mäuse an, als Charlie selbst noch kaum größer als diese war, und legte sie demonstrativ auffordernd vor seinem Ziehsohn ab. Beim ersten Mal erschreckte dieser sich selber halb zu Tode davor und kam laut fiepend zu mir geflüchtet: „Hilfe, Mami, da liegt eine riesengroße Maus im Wintergarten, die hat mich ganz böse angeschaut!“ Diese Zeiten sind allerdings längst vorbei - mittlerweile ist Charlie selbst ein begeisterter Jäger und es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht - wie die anderen auch - eine erlegte Maus oder Eidechse als Liebesgabe nach Hause bringt.

Das heißt: wenn wir Glück haben. Wenn wir Pech haben, ist die jeweilige Beute nämlich noch nicht oder noch nicht ganz erlegt, wenn sie hereingeschleppt wird. Wie alle Katzenbesitzer wissen, sind Katzen ja vollkommen frei von menschlichen Moralvorstellungen à la „Quäle nie ein Tier zum Scherz / denn es fühlt wie du den Schmerz“ oder „Was du nicht willst, das man dir tu‘ / das füg‘ auch keinem andern zu“ und so weiter. Mit solchen Belehrungen kommt man bei den Samtpfoten nicht sonderlich weit (mit Belehrungen anderer Art übrigens auch nicht, aber das gehört jetzt nicht hierher). Hingegen sind Katzen - auch erwachsene - ihr Leben lang sehr spielfreudige Naturen, denen es große Freude bereitet, ihre Beute nicht gleich zu töten, sondern erst mal eine ganze Weile (solange besagte Beute halt durchhält) zu malträtieren. Unsere Kater sind da keine Ausnahme - auch sie haben ihren Spaß dran, eine einmal erbeutete Maus oder Eidechse so lange frei zu lassen und wieder einzufangen, bis das arme Geschöpf nach gefühlten 150 vergeblichen Fluchtversuchen schließlich irgendwann seinen Geist aufgibt.

Kein schöner Anblick. Wenn wir rechtzeitig zu diesen unschuldig-grausamen Spielchen dazu kommen und für die Beute nach menschlichem Ermessen noch eine Chance auf Rettung besteht, greifen wir deshalb natürlich in der Regel ein, auch wenn uns klar ist, dass wir hier einen ganz normalen, von Mutter Natur vorgegebenen Ablauf stören und uns als piefige Spielverderber und Besserwisser aufspielen. Von unseren Katern ernten wir denn auch vorwurfsvolle Blicke, wenn wir ihnen ihr geliebtes Spielzeug wegnehmen und in die Freiheit entlassen - wir können sie förmlich seufzen hören: „Ich würde dich ja wirklich gern mitspielen lassen, Mami, aber du stellst dich immer so ungeschickt an, jedes Mal lässt du sie entwischen! Fang dir doch mal dein eigenes Spielzeug!“

Wobei wir beim Thema wären. Es ist nämlich durchaus nicht so, dass nur wir gefangene Beute entwischen lassen. Manchmal passiert das auch unseren Katern selbst - wenn auch in diesem Fall wohl in der Regel unabsichtlich. Passiert das im Freien, ist es ja egal (bzw. für die Beute eher ein Glück), aber leider haben unsere Kater die Tendenz, ihre lebenden Spielsachen - wie die meisten Kinder - vorzugsweise im Wohnzimmer auszubreiten. Wenn es sich ergibt, auch mal im Wintergarten oder in der Küche. Und wenn das „Spielzeug“ dann noch halbwegs fit ist und unter den nächstbesten Schrank flüchtet, dann ist das nicht so furchtbar günstig. Wer schon mal versucht hat, einen in der Wohnung panisch herumflatternden Spatz davor zu bewahren, sich am Küchenfenster das Genick zu brechen, weiß, wovon ich rede. Unvergesslich auch der Tag, als Charlie und sein Lehrmeister-Kumpel Felix in beeindruckender Teamarbeit gemeinschaftlich eine ziemlich große Ratte durch den Hof jagten, die sich dann mangels Alternativen durch die leider gerade offen stehende Haustür in unsere Küche und dort in einen schmalen Spalt zwischen einem Küchenunterschrank und dem Kühlschrank flüchtete. Dort saß sie dann, unerreichbar für die beiden Großwildjäger, zitternd mit dem Rücken an die gekachelte Wand gepresst, und guckte mit großen Augen. Da bei Ratten der Spaß für mich aufhört (bei Mäusen springe ich durchaus nicht schreiend auf den Tisch, die finde ich süß, aber Ratten sind ein anderes Kaliber), musste mein armer Mann sich dieser häuslichen Krise allein stellen, während ich mich mitsamt der beiden (natürlich ob dieser Freiheitsberaubung hell empörten!) Jagdkumpane derweil im Schlafzimmer einschloss. Von dort aus konnten wir drei dann akustisch mitverfolgen, wie der Herr des Hauses zunächst ein bemerkenswert reichhaltiges Repertoire an spanischen Flüchen vom Stapel ließ, sodann schimpfend den Kühlschrank verrückte und schließlich unter Zuhilfenahme eines Besens die verängstigte, laut quiekende Ratte heldenhaft zurück in die Freiheit komplimentierte. Ein sehr spannendes Hörspiel!

Endet eine „Beute-auf-der-Flucht“-Episode so glücklich wie diese (sprich: mit dem Entkommen des jeweiligen Delinquenten in die freie Natur), dann ist ja hinterher immerhin alles wieder in Ordnung. Aber da unsere Kater rund um die Uhr und ohne Einschränkungen das Haus betreten und verlassen können, wie es ihnen gerade einfällt, und da wir selbst gelegentlich schlafen müssen oder auch mal schlicht nicht zu Hause sind, ergeben sich täglich leider große Zeitfenster, in denen die kleinen Biester unbeobachtet von uns ihrer Jagd- und Spielleidenschaft frönen können. Dass dabei mal wieder eine Maus fixer gewesen sein musste als ihre Häscher, wurde uns klar, als wir eines Morgens vor einigen Wochen die Bilder unserer „Wildcam“ kontrollierten. Diese kleine Infrarotkamera, die von einem Bewegungsmelder ausgelöst wird, hat mein Mann vor einiger Zeit so in unserer Küche installiert, dass sie den Trockenfutternapf unserer Katzen überwacht und nachts Bilder schießt, wenn eine von ihnen zum Fressen erscheint. Und nein, das belegt nicht unser zwanghaftes Kontrollbedürfnis - das Konstrukt entstand zum einen deshalb, weil einer unserer Kater (der schwarze Merlin) sich phasenweise tagelang nicht blicken lässt und wir einfach wissen wollten, ob er wenigstens nachts zum Fressen heimkommt und wohlauf war (beides Fragen, die die Kamera uns glücklicherweise positiv beantworten konnte). Zum anderen deshalb, weil der Verbrauch an Katzenfutter bei uns gelegentlich sprunghaft ansteigt, wenn wieder mal eine fremde Katze begriffen hat, dass bei uns nachts immer ein umfangreiches All-you-can-eat-Katzenbuffet bereit steht und sich zwischen Mitternacht und Morgengrauen ebenso unbemerkt wie unberechtigt einschleicht und bedient. Ein Minimum an Kontrolle in der Nacht ist deswegen bei uns durchaus nützlich. An diesem Morgen zeigten die Fotos der Wildcam allerdings neben der üblichen Reihe von über Futternäpfen gebeugten Katzenköpfen noch etwas, was uns ziemlich verblüffte: eine Maus nämlich! Selbige saß minutenlang auf dem Rand der Trockenfutterschüssel und mampfte begeistert; zwischendurch plierte sie frech in die Kamera und grinste. Fehlte nur noch, dass sie uns den Stinkefinger - pardon: -kralle - gezeigt hätte!

Wir waren einigermaßen perplex. Was zum Teufel machte diese Maus da? Die sinnvollste Erklärung schien, dass sie irgendwann erfolgreich einem unserer Kater innerhalb des Hauses entwischt war, und dieser nach einer Weile das Interesse an der Jagd verloren und sich anderen Beschäftigungen zugewandt haben musste. Die Maus hatte vermutlich derweil in einem sicheren Versteck abgewartet, war dann aber - auf dem Nachhauseweg? - vom kleinen Hunger zwischendurch übermannt worden und hatte für einen Snack am Katzenfutternapf Rast gemacht. Bei längerem Nachdenken schien uns das geradezu von philosophischer Gerechtigkeit zu sein: Statt selbst gefressen zu werden, hatte sie den Katern deren Futter weggefressen. Man konnte ihr dazu nur gratulieren - und hoffen, dass sie danach den Ausgang gefunden hatte. Zumindest fand sich auch bei gründlicher Inspektion aller Ecken nirgends in der Wohnung an diesem Morgen eine frisch gemeuchelte Maus.

Dass die Maus den Ausgang entweder nicht gefunden oder vielleicht auch überhaupt nicht gesucht hatte, begriffen wir an den darauf folgenden Tagen. Nicht nur, dass sie mit schöner Regelmäßigkeit ab diesem Tag auf den nächtlichen Beweisfotos am Futternapf erschien (jedes Mal mit diesem feisten Grinsen im Gesicht!) - sie fing auch an, sich tagsüber akustisch bemerkbar zu machen. Und das auch noch an verschiedenen Stellen im Haus. Mal hörte man es im Bücherregal rascheln und knistern, mal klapperte es plötzlich unerwartet im Küchenschrank. Um meine Theorie zu überprüfen, dass es sich dabei tatsächlich nicht um einen Poltergeist, sondern um „unsere“ Maus handelte, legte ich nach einem solchen Klappern mal probehalber ein Stückchen Cheddar in den Schrank. Fünf Minuten später, als ich die Tür wieder öffnete, war es verschwunden, und man konnte ganz deutlich ein zufriedenes Rülpsen hinter den Tupperschüsseln hören, ich schwör‘s!

Damit war der Beweis erbracht - und wir wunderten uns: Wie schaffte es dieses dreiste kleine Geschöpf, seit mindestens zehn Tagen in einem Haushalt mit fünf jagdbesessenen Katern nicht nur zu überleben, sondern sich mit ihren potenziellen Killern auch noch allnächtlich den Futternapf zu teilen? Hatte der kleine Nager Harry Potter seinen Tarnumhang geklaut? Oder unsere Kater irgendwie zu einem Nichtangriffspakt überredet? Spielten die vielleicht gemütlich jede Nacht hinter unserem Rücken Skat zusammen? Jedenfalls verdiente diese Maus für ihre Gerissenheit und Tapferkeit vor dem Feind auf jeden Fall den Namen Jerry, wie wir umgehend beschlossen!

Jerry fühlte sich bei uns offenbar äußerst wohl. Zu wohl, wie wir bald fanden. Er machte nämlich keinerlei Anstalten, wieder auszuziehen, sondern begann ganz im Gegenteil, sich zunehmend häuslich bei uns einzurichten. Unter anderem erkannten wir das daran, dass er selektiv Dinge zu zernagen begann, die ihm wohl zum Mäusenestbau geeignet schienen: eine Fleecedecke, mehrere Bücher, ein paar Briefumschläge ... Außerdem wurde er immer frecher. Eines Tages saß ich auf dem Sofa, den Laptop auf dem Schoß, und arbeitete konzentriert vor mich hin, als ich plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Auf der Armlehne des Sofas hatte ich kurz zuvor ein leeres Schüsselchen abgestellt, aus dem ich ein Vanilleeis gegessen hatte. In diesem Schüsselchen hockte nun Jerry und leckte begeistert die Reste aus - vollkommen unbeeindruckt davon, dass ich direkt neben ihm saß!

Eine Weile lang machten wir gute Miene zum bösen Spiel, aber als wir dann feststellten, dass die Hornknöpfe am neuen Jackett meines Mannes rundum von Mäusezähnchen angeknabbert waren, war das der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. In einer außerordentlichen Haushaltssitzung beschlossen wir, Jerry vor die Tür zu setzen. Auf die Hilfe unserer Kater konnten wir bei dem Problem nämlich definitiv nicht rechnen. An einem Tag schlief Merlin entspannt den Schlaf des Gerechten, während direkt neben seinem Sessel Jerry unüberhörbar eines meiner Psychologiebücher zerlegte. An einem anderen Tag saßen drei unserer Kater in Erwartung ihres Abendessens zwischen meinen Füßen in der Küche, während Jerry im Küchenschrank - den Geräuschen nach zu schließen - offensichtlich diverse Salatschälchen umräumte. Wahrscheinlich standen sie ihm bei irgendeiner wichtigen Mäusetätigkeit im Weg. Das interessierte meine werten Kater aber nicht die Bohne, obwohl sie sonst bei jedem ungewohnten Laut sofort die Ohren spitzen. Die Hypothese mit dem Nichtangriffspakt schien sich zu bestätigen. Also mussten wir uns selber was einfallen lassen.

Haben Sie schon mal versucht, auf Gran Canaria eine Lebendfalle für eine Maus zu kaufen? Nein? Probieren Sie das mal - die Gesichter der Angestellten in den Baumärkten und ferreterías, in denen Sie danach fragen, vergessen Sie nie wieder! Die schauen einen an, als wäre man nicht ganz bei sich. Mausefalle, klar, kein Problem - aber lebend? Wozu das denn? „Pero - qué van a hacer con un ratón vivo?“, wird man entgeistert gefragt? Na was schon - draußen frei lassen natürlich! Die Blicke, die man auf diese Antwort hin erntet ... unbezahlbar. Bedauernd wurden Köpfe geschüttelt. Diese Deutschen immer! Auf so eine absurde Idee war nun wirklich kein einziger Canario vor uns gekommen. Letale Schlagfallen schienen die einzig mögliche Umgangsform mit einem Mäuseproblem hier auf der Insel zu sein.

Nach zahllosen Fehlschlägen in einer kleinen ferretería dann endlich ein Hoffnungsschimmer: ja doch, sie hätten auch eine Mausefalle, die die Maus nicht tötete. Hurra! Immer her damit! Wir wähnten uns schon am Ziel - bis sich herausstellte, dass es sich bei besagter Mausefalle um eine Klebefalle handelte, nicht unähnlich den Fliegenfängern, die man auch bei uns in Deutschland findet: ein Brett, versehen mit einem stark klebenden Belag, der die Maus an Ort und Stelle fixiert, wenn sie - angelockt von einem Köder - den Fehler macht, auf das Brett zu treten. Ich betrachtete das Ding zweifelnd. Stimmte schon, töten würde dieses Verfahren die Maus erst mal nicht. „Aber wie kriege ich die Maus hinterher denn unbeschadet wieder von der Klebefläche los?“, erkundigte ich mich. Und stand sofort wieder im Trommelfeuer misstrauischer kanarischer Blicke. Wieso losmachen? Nein, das ginge natürlich nicht mehr, erklärte mir der Angestellte mit derselben leicht genervten Geduld, mit der man einem besonders unterbelichteten Kind erklärt, warum zwei und zwei vier ergeben. Er machte eine unmissverständliche Handbewegung, um der offenbar verblödeten Deutschen zu demonstrieren, wie die festgeklebt zappelnde Maus zu erschlagen sei. Wir lehnten dankend ab, auch dieses kanarische Produkt zur Schädlingsbekämpfung war nicht das, was wir uns vorgestellt hatten.

Was jetzt? Jerry per Schlagfalle oder gar mit diesem klebrigen Folterinstrument zu Leibe zu rücken, kam natürlich nicht in Frage. Der Kleine gehörte schließlich mittlerweile irgendwie zur Familie und verdiente unseren Respekt. Ich befragte das Internet und stieß auf begeisterte Rezensionen zu „Trixie, der freundlichen Mausefalle“ (das Teil heißt wirklich so, natürlich nur auf deutschen Websites!). Aus Plastik, durchsichtig (die Maus will ja sehen, wo sie sich da gerade selbst eingesperrt hat), umsichtig mit ausreichend Luftlöchern versehen, und mit einem extra-sanften Schließmechanismus. Damit die Maus keinen Schreck kriegt, wenn sie in die Falle marschiert, sich den Köder schnappt und hinter ihr die Tür zu geht. Das leuchtete mir unmittelbar ein - bei den Lebendfallen aus Draht, die ich noch aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte (ja, mein Vater musste schon damals die Gefühle seiner Tochter schonen und widerrechtlich im Keller eingezogene Nager auf diese Weise fangen), pflegte sich die Falltür immer mit einem lauten Knall zu schließen. Gut, dass die Mäuselebendfallenhersteller diesen Mangel mittlerweile erfolgreich behoben hatten! Ich bestellte die Mausefalle umgehend. Als Köder wurden Schokoladenstückchen oder Nutellabrotstückchen in den Nutzerkommentaren besonders warm empfohlen. Auch so eine Neuerung - was war eigentlich aus „Mit Speck fängt man Mäuse“ geworden? Aber gut, Schokolade und Nutella hatten wir sowieso da.

Als ich das eigens aus Deutschland importierte Qualitätsprodukt zum Lebendfang unseres ungebetenen Untermieters schließlich in den Händen hielt, erwog ich kurz, damit in unsere örtliche ferretería zu gehen, um den Angestellten zu demonstrieren, was ich eigentlich gesucht hatte. Ich entschied mich dann aber doch dagegen - soooo furchtbar interessiert es mich nämlich auch wieder nicht, wie geschlossene psychiatrische Abteilungen auf Gran Canaria von innen aussehen. Stattdessen bestückten wir „Trixie“ weisungsgemäß mit Schokolade und deponierten sie hoffnungsfroh im Bücherregal.

Jerry erwies sich als harter Brocken. Erstens mochte er offensichtlich keine Schokolade, und zweitens stellte sich nach zwei Tagen heraus, dass er gar nicht mehr im Bücherregal hauste, sondern mittlerweile in einen Aktenschrank umgezogen war. Ein wildes Geraschel dort verriet ihn. Wir platzierten die Falle also noch mal um, pfiffen auf die Ratschläge aus den Leserkommentaren und probierten es statt mit Schokolade (Nutella kann ich eh nicht empfehlen, das war ein widerliches Geschmiere!) mal mit Schmelzkäse. Das schien Jerry eher anzusprechen, aber clever, wie er war, gelang es ihm zweimal, den Käse aus der Falle zu klauen, ohne dabei selbst gefangen zu werden - die Falle schnappte zwar beide Male zu, aber ohne Jerry darin. Keine Ahnung, wie er das geschafft hat. Ich beschloss also, auf Bewährtes zurückzugreifen und kaufte den Cheddar nach, der ihm schon im Küchenschrank so gut geschmeckt hatte. Und siehe da, diesmal klappte es!

Triumphierend fischten wir die Falle aus dem Aktenschrank und nahmen unseren Hausgast in Augenschein. Ganz schön dick war das Kerlchen! Kein Wunder, hatte es doch mindestens drei Wochen lang in Saus und Braus von Qualitätskatzenfutter, Käse, Hornknöpfen und allerlei anderem gelebt! Jerry sah nicht mal besonders verschreckt aus, wie er da in der Falle saß - die „freundliche Mausefalle“ hatte ihrem Namen wohl alle Ehre gemacht. Mein Mann trug Falle samt Maus weit hinaus ins Naturschutzgebiet, das an unseren Garten angrenzt, während ich die Katzen mit Leckerli ablenkte, damit sie ihm nicht etwa folgten und Jerry noch auf den letzten Drücker gefährlich werden konnten. Man konnte ja nicht so genau wissen, ob der Nichtangriffspakt eventuell außerhalb unseres Hauses seine Gültigkeit verlor. Zufrieden machte ich mich dann ans Beseitigen von Jerrys Hinterlassenschaften: Fleecekrümel, Hornspäne, Mäuseköttel und Papierschnitzel waren schnell zusammengefegt und entsorgt. Kapitel abgeschlossen. Dachten wir.

Der Mensch denkt, und die Wildcam belehrt ihn eines Besseren. Am Morgen nach Jerrys Auswilderung starrten wir ungläubig auf die Fotos der vergangenen Nacht. Ohne Zweifel, da saß auf dem Rand der Trockenfutterschüssel schon wieder eine Maus! Wir kontrollierten das Datum der Kamerabilder, weil wir zunächst dachten, wir hätten versehentlich alte angeschaut - aber nein, da stand dick und fett, dass sie tatsächlich aus der letzten Nacht stammten. Die Jerry eigentlich bereits außer Haus hätte verbringen müssen. War der Spitzbube etwa hinter unserem Rücken wieder zurückgekommen? Hatte er den All-inklusive-Service in unserem Haus derart schätzen gelernt, dass er nicht mehr fähig oder willens war, sich in freier Wildbahn zu behaupten? War er ernsthaft der Meinung, wir würden ihn jetzt bis an sein seliges Ende mit Cheddar und Hornknöpfen mästen?

Das Rätsel löste sich am Spätnachmittag desselben Tages, als im Küchenschrank zwei Tupperschüsselchen klappernd umfielen, ohne dass einer von uns in der Küche gewesen wäre. Mein Mann war schneller als ich, riss den Schrank auf - und da saß eine Maus in der Salatschüssel und guckte ihn verschreckt an. „Das ist definitiv nicht unser Jerry“, erklärte mein Mann mit fachkundiger Miene. „Jerry war viel dicker - die hier ist kleiner und dünner. Das muss eine andere Maus sein! Bestimmt waren die die ganze Zeit über zu zweit hier und haben sich beim Fressen abgewechselt!“

Besagte andere Maus hatte das Ende seiner Überlegungen nicht abgewartet und war mittlerweile unter den Küchenschrank geflitzt. Ich holte die freundliche Mausefalle wieder aus dem Werkzeugschrank und bestückte sie - aus Erfahrung klug geworden - diesmal gleich mit Cheddar. Offensichtlich war Maus Nummer Zwei nicht ganz so clever wie Jerry, denn sie ging gleich im ersten Anlauf in die Falle. Vielleicht war sie auch einfach nur viel hungriger als der dicke Jerry - sie war tatsächlich viel dünner und kleiner als er und, trotz des sanften Schließmechanismus, auch erheblich verängstigter als ihr frecher Kumpel. Mein Mann trug sie rasch ins Naturschutzgebiet und entließ auch sie in die Freiheit, während ich den Küchenschrank ausräumte und alles einer gründlichen Reinigung und Inspektion unterzog ... immer in der heimlichen Sorge, auf ein Nest voller Mäusebabys zu stoßen. Wer wusste denn schon, ob Maus Zwei nicht vielleicht Jerrys Freundin oder gar Ehefrau war und die beiden schon für Nachwuchs in unserem All-inclusive-Luxusressort für Mäuse gesorgt hatten? Glücklicherweise bewahrheitete sich wenigstens diese Befürchtung nicht - das hätte uns noch gefehlt!

Ich hielt meinen heimkehrenden Katern einen ernsten Vortrag über ihre häuslichen Pflichten und Aufgaben und forderte sie zu einer Stellungnahme auf. Was sie dazu zu sagen hätten, dass sich bei uns direkt unter ihren Augen nicht nur eine, sondern sogar zwei Mäuse häuslich eingerichtet hätten? Ob das nicht eindeutig eine üble Nachlässigkeit ihrerseits sei? Felix kaute während meiner Ausführungen nachdenklich auf einem halben lagarto herum, den er von draußen mit hereingeschleppt hatte. Ansonsten interessierten sich allerdings alle fünf in keinster Weise für meine Beschwerden. Mehr als ein gelangweiltes Gähnen war keinem zu entlocken. Keinerlei Anzeichen für schlechtes Gewissen ob ihrer Pflichtvergessenheit. Stattdessen forderten sie nachdrücklich ihr Abendessen ein. Nein, heute kein Whiskas, bitte lieber Sheba, danke sehr.

Wie schrieb schon Kurt Tucholsky? „Die Katze ist das einzige vierbeinige Tier, das dem Menschen eingeredet hat, er müsse es erhalten, es brauche aber dafür nichts zu tun.“ Meine Kater bilden da offensichtlich keine Ausnahme ...

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