Warum ich Tapas liebe


Tapas
Ein Element der spanischen Küche, das ich von Anfang an absolut unwiderstehlich fand, findet sich auch auf den Kanaren überall: die tapas-Kultur.Tapas sind kleine Appetithäppchen, die man eigentlich zum Aperitif zu sich nimmt - was mich angeht, lasse ich zu ihren Gunsten aber auch jederzeit gerne eine klassische Hauptmahlzeit ausfallen! Tapa bedeutet eigentlich "Deckel"; angeblich geht der Ursprung dieser Tradition auf frühere Zeiten zurück, in denen Gastwirte die servierten Bier- oder Weingläser mit einer Brotscheibe abzudecken pflegten, um das Getränk vor Fliegen zu schützen.

Die Vielfalt der tapas ist in vielen Bars schier unendlich: da gibt es Schüsselchen mit grünen und schwarzen Oliven in jeder nur denkbaren Zubereitungsform, ensalada rusa (die spanische Variante des Kartoffelsalats mit Möhren, Erbsen und viel Majonäse darin, ein Figurkiller, aber superlecker!), würzigen jamón serranopatatas bravas (wörtlich: "wilde Kartoffeln" - wild daran ist meist vor allem die fruchtig-scharfe Sauce, mit der sie serviert werden und die je nach Küchenchef anders schmeckt), Miesmuscheln (mejillones) in Tomaten- oder Knoblauchsauce, tortilla española (das berühmte spanische Kartoffel-Eieromelett, bei dem um die Frage, ob Zwiebeln hinein gehören oder nicht mancherorts wahre Glaubenskriege geführt werden!), pimientos al padrón (kleine grüne Paprikaschoten von mildem Geschmack, die in der Pfanne mit duftendem Olivenöl gebraten und mit grobem Meersalz gewürzt werden) und zahllose mehr. Zu meinen persönlichen Favoriten gehören auch boquerones en vinagre, in Essig marinierte Sardellen, die im Geschmack ein klein wenig an deutschen Bismarckhering erinnern, nur sehr viel feiner.

Tapas sind Kommunikation pur!

Was mir an der tapas-Kultur so gut gefällt, ist einerseits natürlich ihre Vielfalt, andererseits aber auch die kommunikative Atmosphäre, die ein Tisch voller köstlicher Kleinigkeiten zwischen mir und anderen netten Menschen ganz automatisch mit sich bringt: Man bestellt nicht - wie in Deutschland praktisch immer üblich - jeder ein einzelnes Gericht, das man dann autistisch in sich hineinmümmelt (wenn man den Fehler macht, in einem Sterne-Restaurant wie dem des Herrn Lafer zu essen, darf man dabei ja noch nicht einmal eine Gabel voll vom Teller des Gegenübers probieren, ohne dass einem das eine heftige Rüge seitens des Personals einbringt). Bei tapas ist es Teil des Konzepts, dass jeder von allem, was da aufgefahren wird, nicht nur probieren kann, sondern probieren soll! Das erfordert schon bei der Bestellung einen intensiven Austausch aller Beteiligten darüber, welche tapas denn nun aus der reichen Auswahl diesmal genommen werden sollen. Während des Essens wird dann rege darüber diskutiert, wem was warum am besten schmeckt, wo man vielleicht schon einmal eine ebenso gute (oder gar bessere) Variante dieser bestimmten tapa gegessen hat und wer der am Tisch Sitzenden nun diese letzte ciruela (eine mit Speck ummantelte gebratene Pflaume) bekommen sollte.

Ein tapas-Essen ist eine entspannte, formlose und heitere Angelegenheit, und in meinen Augen eine tausendmal genussvollere Mahlzeit als ein steifes Fünfgängemenü in einem Gourmettempel. Der Slogan eines hiesigen Mobilfunkanbieters - compartida la vida es más (etwa: "das Leben wird reicher, wenn man es  mit anderen teilt") - umschreibt das spanische und kanarische Lebensgefühl hervorragend: Kommunikation, (Mit-)Teilen und ganz allgemein Gemeinschaft wird hier um vieles größer geschrieben als in der deutschen Kultur. Das gewohnheitsmäßige Teilen von Gerichten ist nur eine Facette dieses Lebensgefühls. Auch, wenn man in einem Restaurant eine Vor- oder Nachspeise bestellt, wird man hier fast immer gefragt: "para compartir?" oder: "con dos cucharas?" - "mit zwei Löffeln?" Oder es wird ganz selbstverständlich gleich stillschweigend eine ausreichende Anzahl von Esswerkzeugen mit an den Tisch gebracht, damit alle Anwesenden davon probieren können.

Ein Spießchen geht noch ...

Am allerliebsten essen wir tapas in Bars, stehend am Tresen oder auch auf Barhockern um kleine Tischchen zusammengedrängt. Oft findet sich eine Auswahl der Leckereien direkt hinter dem Tresen appetitlich hinter einer Glasscheibe aufgereiht, so dass einem schon beim Eintreten das Wasser im Mund zusammenläuft. Perfektioniert hat dieses Konzept die tapas-Kette Lizzaran, von der es auf Gran Canaria aktuell leider nur eine Filiale gibt (in der Einkaufsstraße Triana in Las Palmas). Hinter aufklappbaren Scheiben stehen jede Menge Tellerchen mit montaditos -Weißbrotscheiben, mit den unterschiedlichsten Köstlichkeiten belegt (wir würden sie wohl Kanapees nennen). In jedem steckt ein kleines Holzspießchen - ein pincho -, das je nach seiner Form unterschiedliche Preise für die Häppchen signalisiert und deren Ansammlung auf dem Teller dem Kellner am Schluss zur Erstellung der Rechnung dient. Ein unwiderstehlicher Anblick, der größere Seelenstärke als meine von einem fordert, wenn man auf die schlanke Linie achten möchte!

Aber auch in anderen Bars und tascas sind die tapas immer eine gute Wahl, wenn man unterwegs eine Kleinigkeit essen möchte. Normalerweise teile ich zum Beispiel die spanisch-kanarische Leidenschaft für pulpo und calamar - Tintenfisch - nicht so bedingungslos. Vor allem, wenn man mir als alter Landratte Dinge wie puntillas de calamar (im Ganzen frittierte Baby-Tintenfische) oder calamares en su tinta (in seiner Tinte gegarter, und deshalb blau-schwarz gefärbter Tintenfisch) vor die Nase stellt, bekomme ich Schwierigkeiten. Im Gegensatz zu meinem Mann, der von Kindesbeinen an mit sämtlichen Meeresfrüchten Spaniens groß geworden ist und der da unbekümmert herzhaft hineinbeißt, liefert mir die pure Optik des Essens zu viele unangenehme Assoziationen. Ich habe zwar beides mal ganz tapfer probiert, aber genießen kann ich diese Gerichte nicht wirklich. Pulpo en vinegreta dagegen, eine tapa die es oft in Bars hier gibt, weiß ich mittlerweile sehr zu schätzen: ein kalter Salat aus klein geschnittenem Oktopus-Fleisch (klein genug, dass sich mir die Füßchen mit ihren Saugnäpfen nicht mehr anklagend vom Teller entgegenstrecken und mich an den lustigen WM-Paule erinnern!), bunten Paprika und Zwiebeln. Schmeckt an einem heißen Tag herrlich! Auch pulpo a la gallega esse ich ab und zu ganz gerne. Dafür wird der Oktopus gegart und dann (wieder Landratten-freundlich zerkleinert!) lauwarm in einer Marinade aus Olivenöl und mildem pimiento (Paprika) serviert. Eine Freundin, die vor kurzem eine Woche hier bei uns Urlaub machte, hat in dieser Zeit jeden Tag mindestens einmal pulpo a la gallega verspeist und ihre persönliche "Hitliste" hinsichtlich der Zubereitung in verschiedenen Restaurants aufgestellt. Gesiegt hat dabei unser Stammlokal am Hafen in Agaete, "Las Nasas", in dem ihrem Urteil zufolge der Tintenfisch am zartesten und schmackhaftesten war.

El Perola in Agaete

A propos Stammlokal: Unsere Lieblingsbar in Agaete war vom ersten Tag an das "El Perola" direkt gegenüber der Kirche in der Ortsmitte. Eine echt urige spanische Eckkneipe, in die ich mich - wäre ich allein und als Touristin hier gewesen - wahrscheinlich nie reingewagt hätte. Und wenn, dann hätte ich nicht gewusst, was ich bestellen sollte, denn eine Speise- oder Getränkekarte gibt es hier nicht. Mal abgesehen davon, dass ich vermutlich erst einmal Zweifel an der hygienischen Unbedenklichkeit des hier Servierten gehegt hätte. Die Flaschen, die die Wandregale aus dunklem Holz bis unter die Decke bevölkern, stammen wahrscheinlich noch aus dem letzten Jahrtausend, jedenfalls sind sie derart eingestaubt, dass man teilweise nicht einmal mehr die Etiketten erkennen kann.

Hinter der Theke präsidiert Pepe el Perola, der Kneipenwirt, klein, dick, stets mit einem freundlichen Grinsen im Gesicht und immer in einem ausgeleierten T-Shirt von undefinierbarer Farbe, das sich bedenklich über seiner barriga spannt. Auf dem Regal über der Kasse thront eine kleine Buddha-Statue, die ihm zum Verwechseln ähnlich sieht und genauso viel Gelassenheit ausstrahlt wie er. Ich kann mir - außer vielleicht einem Tsunami - kaum ein Ereignis vorstellen, das Pepe aus der Ruhe bringen könnte. Selbst wenn seine Kneipe bis zum Bersten voll ist, bewegt er sich nicht einen Hauch schneller als sonst zwischen Zapfhahn, Küche und Theke hin und her. Ein einziges Mal habe ich ihn in einer Gemütsverfassung erlebt, die man bei anderen Menschen wohl Rage nennen könnte: als ein angetrunkener FC Barcelona-Fan in seiner Bar herumkrakeelte. Aber selbst da wurde Pepe nicht laut. Er walzte lediglich seine gesamte beeindruckende Körpermasse im Zeitlupentempo hinter der Bar hervor und drängte den Randalierer energisch zur Tür hinaus, indem er seinen runden Bauch wie ein Schlachtschiff vor sich herschob. Dann kehrte er in aller Ruhe zu seinen Zapfhähnen zurück. Übrigens bedeutet írsele a alguien la perola umgangssprachlich so etwas wie "völlig daneben / abwesend sein". Nomen est omen ...?

Chapuza canaria schlägt deutschen Ordnungssinn

Wenn wir auftauchen, stellt Pepe unaufgefordert zwei cañas (das sind kleine Gläser Bier) vor uns hin und legt eine Handvoll gerösteter Erdnüsse in der Schale daneben auf die Theke. Diese Nüsse gibt es zu jedem Getränk kostenlos dazu, was man schon beim Betreten der Bar daran erkennt, dass der Fußboden des El Perola mit Erdnussschalen übersät ist. Als ordentliche Deutsche hat mich die Lässigkeit, mit der Spanier in Bars einfach alles unbekümmert auf den Boden werfen, anfangs ungemein irritiert: gebrauchte Servietten, Zigarettenstummel, Bons und eben auch die Schalen von Erdnüssen türmen sich da vor der Theke auf dem Fußboden. Ab und zu kommt jemand mit einem Besen vorbei und fegt die ganze Bescherung zusammen, aber nur, damit wieder Platz für neuen Abfall entsteht. Mir schien das zunächst sehr unordentlich und unhöflich; wieso ließ man die Servietten nicht wie in Deutschland auf dem Teller liegen, wo sie leicht hätten mit abgeräumt werden können? Ich stapelte also meine Nussschalen bei meinen ersten zwei Perola-Besuchen sorgfältig auf der Theke, in der selbstgefälligen Annahme, Pepe damit einen Gefallen zu tun - war doch viel einfacher für ihn, die dann von dort aus zu entsorgen! Hinter mir würde er nicht herfegen müssen, ich war schließlich nicht so schlampig wie die Kanarier!

Beim dritten Kneipengang drehte ich mich in der Tür noch einmal um - nur um zu sehen, wie Pepe unsere beiden Gläser abräumte und dann mein ordentliches Nussschalen-Häufchen mit der Hand von der Theke auf den Boden wischte, wo es sich zu den dort schon liegenden Abfällen gesellte. Chapuza canaria hatte deutschen Ordnungssinn besiegt. Seither werfe ich wie alle anderen meine Servietten, Nussschalen und sonstiges ergeben auf spanische Barfußböden - und was soll ich sagen: es fängt langsam an, mir Spaß zu machen! Kürzlich habe ich mich bremsen müssen, denn wir hatten Erdnüsse für zuhause gekauft und um ein Haar hätte ich ... aber gerade rechtzeitig fiel mir noch ein, dass ich die dann irgendwann ja selber hätte wegfegen müssen. Das hätte dem Spaß an der Sache dann doch einigen Abbruch getan.

Bin ich von den Nüssen noch nicht richtig satt, dann bestellen wir bei Pepe noch eine Portion ropa vieja und eine Portion albóndigas, beides hausgemachte tapas, die zu einem kalten Bier unschlagbar köstlich schmecken. Albóndigas sind kleine Hackfleischbällchen in einer fruchtigen Tomatensauce mit genau dem richtigen Hauch Knoblauch. Dazu reicht Pepe ein paar Scheiben getoastetes Weißbrot mit einem leichten Anis-Aroma, mit denen man sich und den Boden ganz nach Gusto vollkrümeln kann. Meistens hat Pepe auch papas arrugadas con mojo im Angebot, die typischen kleinen kanarischen Schrumpelkartoffeln, die in der Schale gegart und mit entweder roter oder grüner Soße serviert werden. Ebenfalls eine tapa, die man unbedingt probiert haben muss, bevor man die Kanaren wieder verlässt! Dann noch eine letzte caña "for the road" und wir trudeln satt, faul und zufrieden heimwärts. Die Grillen zirpen (auch im Dezember oder Februar), die Luft ist warm und es riecht ganz leicht nach Meer. Im Dunkeln wiegen sich Palmwedel und Oleander raschelnd an den Straßenrändern und eine schwarzweiße Katze jagt einem lagarto hinterher. Alltag auf Gran Canaria ...