Was in zwölf Kartons passt


Ende dieses Monats ist es dann soweit: Wir sind genau ein Jahr hier! Ich kann es schwer glauben, dass es schon wirklich so lange sein soll - gefühlt würde ich auf höchstens sechs Monate tippen. Aber es war tatsächlich der 28. November 2010, an dem wir hier mit unserer Katze auf und unseren letzten Siebensachen unter dem Arm "richtig" eingezogen sind. Ein ziemlicher Kraftakt in Sachen Ballastabwerfen lag damals hinter uns ...

Anfang Juni 2010 war überhaupt erst die endgültige Entscheidung zum Umzug gefallen. Wir hatten damals vor unserer Abreise aus Gran Canaria mit den Verkäufern des Hauses, das wir im Auge hatten, eine opción de compra vereinbart, die uns - gegen eine Kaution - ein Vorkaufsrecht von drei Monaten auf das Haus sicherte. In dieser Zeit mussten wir uns zumindest keine Sorgen machen, dass jemand anderes uns das gute Stück vor der Nase wegschnappte. Als wir daheim die Haustür aufschlossen, begrüßte uns neben der Katze auch die Stimme unserer Immobilienmaklerin auf dem Anrufbeantworter, die uns wissen ließ, dass sie erste Interessenten für unser Haus in Deutschland gefunden hätte. Wann uns ein Besichtigungstermin recht wäre?

Schussfahrt in ein neues Leben

Ab diesem Zeitpunkt begann sich das Ganze anzufühlen wie eine Schussfahrt in einem mit Olivenöl eingeschmierten Bob den Eiskanal hinunter. Binnen sechs Wochen war unser Haus verkauft - zu einem besseren als dem von der Maklerin ursprünglich angepeilten Preis, und obwohl sie uns darauf eingestimmt hatte, dass wir etwa mit sechs Monaten zu rechnen hätten, bis ein ernsthafter Interessent gefunden sein würde. Wir vereinbarten den 1. Dezember als Übergabetermin und flogen zurück nach Gran Canaria, um dort den Hauskauf notariell unter Dach und Fach zu bringen. Wieder mal kamen uns die spanischen Wurzeln meines Mannes zu Hilfe - einer seiner Cousins leitet eine Bankfiliale auf Gran Canaria, ein anderer ist Notar auf La Palma, einer der Nachbarinseln. Mit deren Hilfe waren die Formalitäten natürlich nicht nur leichter zu erledigen, wir konnten uns auch in dem beruhigten Gefühl zurücklehnen, dass einheimische Profis ein zusätzliches Auge auf sämtliche Dokumente warfen, bevor wir sie unterzeichneten.

Angesichts der diversen Horrorstories, die ich zu diesem Zeitpunkt im Internet und in verschiedenen Ratgebern entdeckt hatte, war das unserem Nachtschlaf sehr zuträglich. Da war die Rede von „wild“ - also ohne Baugenehmigung - errichteten Immobilien, die für teures Geld an gutgläubige Menschen verkauft worden waren. Kam die Baubehörde dahinter, mussten diese wieder abgerissen werden - und zwar auch noch Jahrzehnte nach ihrer Errichtung und ohne Entschädigung für die unglücklichen Käufer. (Einen ähnlichen Fall, so erfuhren wir später, gab es in Agaete selbst tatsächlich auch.) Ich las mit wachsender Nervosität Geschichten über schlitzohrige Spanier, die Immobilien, die ihnen selbst überhaupt nicht gehörten, an naive Ausländer verkauften. Oder die Unkenntnis der ausländischen Käufer nutzten, um sich ihrer Schulden elegant zu entledigen: In Spanien kauft man mit einer Immobilie nämlich - sofern das nicht explizit anders vereinbart wird - die auf diese Immobilie eingetragenen Grundschulden praktischerweise gleich mit. Wer nicht aufpasst, sitzt am Ende also mit einer durch eine Hypothek bis unters Dach belasteten Immobilie da, während der Verkäufer mit einem Schlag aller Sorgen ledig geworden ist: keine Schulden mehr, dafür den Kaufpreis in der Tasche. Nein, da waren wir schon froh und dankbar, dass die spanische Verwandtschaft uns bei sämtlichen Transaktionen aufmerksam über die Schulter sah!

Zurück zum Wesentlichen!

Zurück in Deutschland, begannen wir uns mit der Frage auseinanderzusetzen, wie wir den Umzug organisieren wollten. Es gab verschiedene Möglichkeiten: Container mieten und unsere Sachen verschiffen (vergleichsweise preiswert, dafür langwierig), Luftfracht (schnell, aber teuer) und - da wir uns nach einigem Hin und Her entschlossen hatten, unser erst ein Jahr altes Auto mitzunehmen - Autofähre. Wir wälzten tagsüber Preislisten und uns selbst nachts im Bett von einer Seite auf die andere, bis mein Mann schließlich die Erleuchtung hatte. Das ganze Projekt Gran Canaria liefe für uns schließlich auch und vor allem unter der Überschrift „Zurück zum Wesentlichen!“, meinte er. Natürlich - Neugier, Abenteuerlust und eine gewisse Alltagsmüdigkeit spielten dabei ebenso eine Rolle wie die Sehnsucht nach Sonne und Meer. Trotzdem ging es bei der ganzen Sache in erster Linie darum, herauszufinden, was eigentlich in unserem Leben unbedingt notwendig war, und was sich an den Jahren auch für Ballast angesammelt hatte - materieller und immaterieller Art -, den wir vielleicht lieber loswerden wollten. Also, folgerte mein Mann messerscharf, sollten wir wahrscheinlich gleich mal mit dem Ballastabwerfen anfangen. Und wo ginge das besser als im Hinblick auf unsere weltlichen Besitztümer? Seine Idee war in ihrer Einfachheit ebenso bestechend wie brutal: Mitgenommen wird alles, was ins Auto passt. Alles andere wird verkauft, verschenkt, verschrottet. Drüben angekommen wird man sehen, was an unbedingt Nötigem fehlt, das kann man dann wieder anschaffen. Aber nicht ein Stück mehr! - Wenn wir diesem Plan folgen würden, dann wäre der Transport ein Kinderspiel und ein schönes Road-Movie zugleich: Wir könnten das Auto bis unter den Rand vollpacken, damit bis nach Cádiz auf die Autofähre fahren, mit dieser bis nach Las Palmas schippern und hätten damit den Umzug in Eigenregie und auf einen Schlag erledigt. Die einfachste und unterm Strich natürlich auch preiswerteste Lösung.

Ich muss zugeben, dass ich erst mal tief Luft holen musste, als er mir das so vorschlug. Die Idee, sich von all dem, was man im Laufe von 25 Jahren Erwachsenenleben so angesammelt hat, einfach mit einem Schlag zu trennen, kann einem schon kurz mal den Boden unter den Füßen wegziehen. Ich war ja schon durchaus auf „Loslassen“ eingestellt, aber so ganz und gar?! Gut, das Haus drüben war grundsätzlich ausgestattet - in Spanien ist es üblich, ein Haus oder eine Wohnung möbliert zu verkaufen. Aber fast gar nichts von unseren eigenen Sachen mitzunehmen? Immerhin hatten wir uns in den letzten zwölf Jahren in einem Fachwerkhaus von 150 Quadratmetern Wohnfläche plus Speicher plus Garten ganz schön ausgebreitet. Je mehr ich aber über den Vorschlag nachdachte, desto reizvoller kam er mir vor. Wenn schon, denn schon! Ich ertappte mich immer öfter dabei, dass ich Dinge in unserem Haus nachdenklich musterte und mich - ganz Feng-Shui-gemäß - fragte: Brauche ich das wirklich? Kann ich mich davon trennen? Werde ich das irgendwann vermissen?

Was in zwölf Kartons passt

Nach ein paar Tagen Überlegen hatte ich mich auf das Konzept eingelassen und wir fuhren in den Baumarkt, Umzugskartons besorgen. Zwölf würden bei umgelegter Rückbank ins Auto passen, hatten wir ausgemessen - ein Renault Kangoo, immerhin, kein Peugeot 206 oder etwas in der Größenordnung. Dazu dann noch zwei oder drei Kleidersäcke und was man in die entstehenden Zwischenräume an Kleinkruscht noch stopfen könnte. Wieder zuhause, klappten wir die Kartons auf und stellten sie nebeneinander im Dachgeschoss auf. Schon ein komisches Gefühl - da sollte also jetzt alles reinpassen, was wir aus unserem Leben mitnehmen wollten?! Ich erinnerte mich an das Buch „Was in zwei Koffer passt“, in dem die Autorin Veronika Peters die Jahre beschreibt, die sie in einem Kloster lebte, und biss die Zähne zusammen. Wenn sie es mit zwei Koffern geschafft hatte, dann mussten wir es doch mit zwölf Kartons hinbekommen!

Am Ende wurden es zugegebenermaßen ein paar Kartons mehr. Die durften zwar nicht mit ins Auto, wurden aber in Deutschland zwischengelagert: drei bei unserem Steuerberater (alte Steuerunterlagen, die wir für eine eventuelle Betriebsprüfung noch aufbewahren mussten), drei im Keller meines Schwagers (hauptsächlich Fotoalben aus der Zeit vor der Erfindung der Digitalkamera und Dokumente wie Rentenunterlagen und Zeugnisse, die wir zwar nicht jetzt, aber doch vielleicht irgendwann mal wieder brauchen würden). Und einen Teil meiner Winterkleidung deponierte ich im Haus meiner Mutter - auf Gran Canaria würde ich sie nicht vermissen, aber bei Besuchen in Deutschland natürlich schon. Ansonsten schafften wir es aber tatsächlich, uns radikal genug zu beschränken. Viel Platz (fast sechs Kartons) nahm allein die Fachliteratur ein, die wir für die Arbeit brauchten. In den restlichen sechs Kartons reiste all das mit, wovon wir uns privat nicht trennen konnten oder wollten - ein paar wenige Erinnerungsstücke und Fotos, eine Handvoll Lieblingsbücher und die Lieblingsstücke aus unserer Küchenausstattung.

Das Packen an sich war dabei schon eine spannende Erfahrung - so manches Stück wurde heiß diskutiert, wenn mein Mann und ich nicht einer Meinung waren, ob es mit „müsse“ oder nicht. Manche Dinge wanderten auch zuerst in einen Karton, um zu einem späteren Zeitpunkt - als der vorhandene Platz schon eng wurde - wieder herausgeholt und doch verabschiedet zu werden. Andere gingen den umgekehrten Weg und wurden im Verlauf des Prozesses von einem von uns aus dem Stapel „zu entsorgen“ wieder heraus- und in einen Karton hineinbefördert. Über Wochen hinweg ging ich jeden Tag grübelnd durchs Haus und überlegte, was ich schon einpacken könnte und was wir bis zu unserer Abreise noch brauchen würden. Und dachte dabei an meine Eltern, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von den Tschechen aus Sudetendeutschland ausgewiesen worden waren. Meine Mutter hatte mir als Kind oft erzählt, wie der Ausreisebefehl lautete: 50 Kilo Gepäck pro Person, eine halbe Stunde Zeit zum Packen, und dann fort! Als ich älter wurde, haben wir oft über die Entscheidungen, die sie damals in aller Hast getroffen hat, zusammen lachen müssen: eine große gusseiserne, unglaublich schwere Pfanne wurde mitgeschleppt. Hauchdünne, zerbrechliche Weingläser und ein silbernes Tee-Service, von denen meine Mutter sich nicht trennen mochte, wanderten in den Koffer. Der Familienschmuck wurde eiligst im Grab meiner Großmutter verbuddelt, in der (leider vergeblichen) Hoffnung, ihn zu einem späteren Zeitpunkt von dort wieder holen zu können. Ich war froh und dankbar, dass ich so viel mehr Zeit und Volumen zur Verfügung hatte, fühlte mich aber trotzdem manchmal nicht viel anders, als würde ich hier gerade auch heimatvertrieben. Und das auch noch aus freiem Entschluss!

Ballast abwerfen!

Unsere Küche verwandelte sich in ein „shipping department“ und ich mich in dessen einzige Angestellte. Ständig lagen Verpackungsutensilien herum, denn die Mehrzahl unserer Bücher und auch viele Möbel verkaufte oder verschenkte ich übers Internet. Ich war selbst überrascht, wie viel Spaß mir das machte und wie stolz ich über jedes erfolgreich abgewickelte Geschäft war. Das Universum oder sonst eine freundliche höhere Macht schien mir beim Projekt "Ballast abwerfen!" wohlwollend und hilfreich unter die Arme zu greifen. Irgendwie fanden erstaunlich viele Dinge im Verlauf der Zeit nämlich gute neue Plätze, an denen sie wirklich freudig begrüßt wurden. Ein nostalgisches Tellerbord aus unserer Bauernküche verschönert nun eine neu eingerichtete Demenzwohngruppe in einem kleinen Nachbarort und erinnert die alten Leutchen hoffentlich an ihre gemütlichen Küchen von früher. Ein Stehpult aus unserem Arbeitszimmer fand seinen Weg in eine Schule für Lernbehinderte und erlaubt es ADHS-Kindern nun, während der endlosen Schulstunden vom Sitzen zum Stehen und wieder zurück zu wechseln, wenn ihnen danach ist. Und ein wiederverwendbarer Magnet-Jahresplaner hilft jetzt dem Vater eines chronisch kranken Jungen, dessen zahllose Therapietermine besser zu koordinieren. Solche Beispiele sinnvoller Wiederverwertung unserer Besitztümer gab es jede Menge, und jedes Mal, wenn es wieder einmal „gerade gepasst“ hatte, belohnte mich das mit einem Glücksgefühl, das allein schon fast den ganzen Aufwand gerechtfertigt hätte.

Für den „Kleinkram“, der sich in jedem Haushalt über die Jahre hinweg ansammelt, veranstalteten wir an einem verkaufsoffenen Sonntag, an dem bei uns Dorffest und deshalb jede Menge Publikumsverkehr im Ort zu erwarten war, einen Hofflohmarkt. Drei Freundinnen erklärten sich bereit, uns dabei zu helfen - eine davon ein echter Flohmarktprofi, die beiden anderen zumindest leidenschaftliche Amateure. Nach den ersten kläglich gescheiterten Versuchen meinerseits, mit knallhart handelnden Schnäppchenjägern fertig zu werden, scheuchten sie mich liebevoll, aber bestimmt ins Haus: Ich solle lieber für regelmäßigen Glühwein- und Teenachschub sorgen (es war inzwischen Mitte Oktober und sehr kalt geworden) und noch ein paar Info-Plakate im Ort aufhängen, statt alle meine Sachen zu Schleuderpreisen unters Volk zu werfen. Das tat ich nur zu gern, denn Handeln war noch nie meine Stärke gewesen und wie man daran Spaß finden kann, ist mir bis heute schleierhaft. Dank des unermüdlichen Einsatzes meiner Freundinnen konnten wir uns am Abend eines langen Tages denn auch über gute Verkaufserlöse und viel abgeworfenen Ballast freuen. Das Wenige, das noch zurückblieb, aber zu schade zum Wegwerfen gewesen wäre, erfüllte ebenfalls noch einen guten Zweck: Wie zufällig hatte wenige Tage vor unserer Abreise ein paar Häuser die Straße hinauf die Indienhilfe des örtlichen Schulzentrums, die seit vielen Jahren aktiv ist, ein Flohmarkt-Lädchen neu eingerichtet, das nach Sachspenden für die Eröffnung suchte. Es war wirklich, als hätte uns das Schicksal den roten Teppich ausgerollt, um uns den Abschied von unserer Habe so leicht und einfach wie irgend möglich zu machen!

Jetzt, ein Jahr später, schaue ich auf diese turbulente Zeit zurück und spüre immer noch die Erleichterung, die mit diesem ganzen Prozess nach und nach einherging. Oft und oft bin ich währenddessen und seither von anderen gefragt worden, ob es denn nicht furchtbar schwierig gewesen sei, sich von praktisch all seinen Besitztümern zu trennen. Und ehrlich gesagt: hätte man mir diese Aufgabe vor ein paar Jahren gestellt, ich wäre daran mit Sicherheit verzweifelt. Aber heute kann ich nur sagen, dass diese Entschlackungskur gut, wichtig und absolut richtig war. Ein Jahr danach gibt es nichts, von dem wir bis heute wirklich bedauert hätten, es weggegeben zu haben. Ein paar Dinge haben wir neu angeschafft - ich glaube, trotzdem ich meinen neuen E-Book-Reader superpraktisch finde, werde ich nie ganz die Finger von "tangiblen" Büchern lassen können, und einen Pürierstab haben wir beim Kochen doch so vermisst, dass jetzt ein neuer da ist. Und das eine oder andere im neuen Haus vorhandene Möbelstück haben wir auch nach unserem Geschmack ausgetauscht oder ergänzt. Aber nichts von unseren alten Möbeln wäre vom Stil und den Maßen her dafür in Frage gekommen, insofern war es gut, dass wir auch hier reinen Tisch gemacht und nichts mitgenommen haben. Seit dieser radikalen Entschlackungskur sind wir auch sehr selektiv bei Neueinkäufen geworden - wir überlegen uns ganz genau, ob dies oder jenes wirklich sein muss oder ob es auch ohne gehen könnte. Und meistens entscheiden wir uns dagegen. Es fühlt sich wirklich gut an, sein Umfeld und sein Leben nicht (mehr) so vollzustopfen. Es passt gut zu der neuen Leichtigkeit, die unser Dasein durch den Umzug hierher gewonnen hat. Und es ist eine sehr befriedigende und beruhigende Feststellung, wenn man merkt, dass das eigentlich Wesentliche und Bewahrenswerte im eigenen Leben sowieso nur zu einem ganz kleinen Teil das ist, was man in Kartons packen kann und muss.

Zwölf Kartons waren, glaube ich, eine richtig gute Entscheidung ...